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Der kühle Grund der Romantik

Romantik ist der am häufigsten falsch verstandene Begriff aus der Literatur und der Lebenshaltung. – Ein Versuch zur gerechteren Würdigung.

«Die blaue Blume der Romantik», nicht gesucht und doch gefunden vom Dichter Novalis (1772-1801), als Symbol eines Zeitalters der Empfindsamkeit auf verschiedene Weise abgewandelt, von der romantischen Naturphilosophie in «Die Lehrlinge zu Sais» bis zur «Reisebeschreibung ohne Reise» (Begriff von Beda Allemann, 1926 bis 1991, bekannter Germanist) von Eichendorffs «Taugenichts». So kompetent wie umfangreich beschrieben von Ricarda Huch (Die Romantik – Blütezeit – Ausbreitung – Verfall, Neuauflage: Tübingen 1951) Auch schon angetönt in der Italiensehnsucht des jungen Goethe. Die «Mignon-Lieder» im «Wilhelm Meister» und ihr Zusammenhang mit der Romanerzählung klingen eindeutig romantisch: «Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn…». Und nicht zu vergessen die eher skurrilen Seiten der literarischen Epoche, verkörpert etwa durch E.T.A. Hoffmann (1776-1822) und die Lyrik und immer wieder ironisch gespiegelt Prosa Heinrich Heines (1797-1856).

Doch der kühle Grund der Romantiker ist ein besonders reiches Bild in der romantischen Dichtung.

Das zerbrochene Ringlein, Joseph v. Eichendorff

In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad
Mein› Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat

Sie hat mir Treu› versprochen,
Gab mir ein’n Ring dabei,
Sie hat die Treu gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.

Ich möcht› als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen,
Und gehn von Haus zu Haus.

Ich möcht› als Reiter fliegen
Wohl in die blut’ge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.

Hör› ich das Mühlrad gehen:
Ich weiss nicht, was ich will –
Ich möcht› am liebsten sterben,
Da wär’s auf einmal still!

Ich denke nicht, dass dieses Eichendorff-Gedicht zu den besten des Dichters gehört. Aber die Strophen drei, vier und fünf sind das beste Beispiel für ein ganz wesentliches Stimmungsgefühl der romantischen Poeten.

Vorerst aber noch allgemeine Bemerkungen zu den Motiven:

Der Topos der gebrochenen Treue ist tief im Volkslied verwurzelt, er ist unter anderem bis in die christliche Mystik zu verfolgen. Wer in der Sammlung «Des Knaben Wunderhorn» auch nur blättert, wird dieser Bemerkung zustimmen.

Die Topoi des Reisens und der ‹Verwirrung der Gefühle›, ganz kurz so charakterisiert, lassen sich, mit etwas mehr Aufwand, ebenfalls zurück verfolgen, bis zu ihren Wurzeln im Volkstum. Sie sind schon in der deutschen Klassik, die ja, glaubt man den gescheiten Franzosen, mehr romantische als klassische Merkmale zeigt, vielfach verwendet worden. Als Schlüsselreferenz seien von Goethes Werken neben «Wilhelm Meister» (beide Teile) auch «Die Italienische Reise» angeführt.

Ganz einfach ist die Geschichte in Eichendorff’s Gedicht; sie braucht nicht nacherzählt zu werden. Warum aber ist es immer ein Mühlerad, das bei gebrochener Treue eine Rolle spielt? Überhaupt wäre es interessant, in Bezug auf Mühlen, Mühlrädern, Müllerinnen, Müllern (und vor allem Müllergesellen) etwas Motivforschung zu betreiben. Ich zähle nur auf: Wilhelm Müllers «Die schöne Müllerin» (man glaubt, die Worte des Dichters wären wenig wert und nur im Zusammenhang mit Schuberts Liedern noch nicht vergessen, was, wie Peter Härtling (Der Wanderer, 1988) nachzuweisen versucht, sehr gut ein Irrtum sein könnte), das Schweizer Volkslied «Simmelibärg» («s’isch äbe-n-e Mönsch uf Ärde…), Ortfried Preusslers «Krabat», einige Variationen im Volkston unseres Eichendorff-Gedichts, desselben Dichters «Taugenichts» – ich bin überzeugt, dass die Liste noch nicht vollständig ist.

Mühlräder scheinen in der Literatur ähnliche Funktionen wie Uhren zu haben. Sie ‹mahlen die Zeit›. Sie haben auch das Fatalistische von Gebetsmühlen an sich, gleichen – ganz entfernt unter diesem Aspekt – Rosenkränzen. Sie ‹mahlen die Vergänglichkeit› und sie zeigen, dass sich alles immer wieder um dasselbe dreht, angetrieben von demselben Motor, hier dem Wasser. «Das mahlet nüt als Liebi», heisst es im «Simmelibärg»-Lied, „die Nacht und auch den Tag».

Zugegeben: Das ist die melancholische Seite des Motivs. Die positive, die aufbrechende, die Neuem rufende Seite davon klingt vor allem im «Taugenichts» an: «Das Rad an meines Vaters Mühle rauschte schon wieder recht lustig…», heisst es hier schon am Anfang. Das gibt dem «Taugenichts» übrigens eine ganz besondere Note, die auch im «Reiselied» Eichendorffs («Durch Feld und Buchenhallen…») aufklingt: «…Recht lustig sei vor allem, wer’s Reisen wählen will». Wer aufbricht, womöglich nach Süden, in das Reich der Marmorstatuen und Wasserkünste, hat das Rechte erwählt. Auch im «Wanderlied der Prager Studenten» klingt’s an, es ist ebenfalls im «Taugenichts» enthalten.

«Das mahlet nüt als Liebi, die Nacht und auch den Tag», das Mühlrad. Es kreist um immer denselben Gedanken: um die Liebste, ihre Schönheit, um die Verheissung unendlichen, immer wieder sich konstant erneuernden Glücks, wie man meint, steht damit stellvertretend für alle Sehnsüchte nicht nur des Romantikers.

Zum Mühlrad und dem Bach, der dieses bewegt, passt die Stimmung des «kühlen Grundes». Man kann das auch wörtlich verstehen: Die Kühle bildet den Hintergrund zur aufgewühlten Seele des verlassenen Liebenden, den der Verlust heiss, in wachsenden Schüben der inneren ‹Temperatur›, wieder und wieder durchfährt. Als erste Zeile des ganzen Gedichts bildet dieses Motiv zudem einen formalen Kreis mit der letzten Strophe, der dort ausgesprochenen Todessehnsucht.

Still ist der kühle Grund der Nacht, des Schmerzes und der Ausweglosigkeit des Leids. Er drängt den Verlassenen zum Tode, von dem er, das stete knarrende, rauschende Drehen des Mühlrads des Lebens im Ohr, verzweifelt denkt, dass er zum tröstenden und erlösenden Bruder werden könnte.

Es ist ‹künstlerische Vornehmheit›, welche das hier Ausgesprochene nicht gefühlvoll und ausführlich ausbreitet, sondern lediglich in Motiven verschlüsselt. Es höre nur, wem Ohren zum Hören gegeben sind. – Wenn es nicht künstlerische Vornehmheit ist, dann ist es der umsichtige Gebrauch von uralten Topoi, die in Mythologie, Mystik und in der Volksseele (wie man das früher auch etwa nannte) tradiert sind.

Fortsetzung:      2. Teil

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