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«Plötzlich diese Übersicht»

Das Aargauer Kunsthaus zeigt die erste Ausstellung zu einem umfassenden „Surrealismus Schweiz“.

Eine junge Frau mit Lust auf Freiheit und Kunst gerät im Paris der 30er Jahre mitten in die Künstler- und Literatenszene der Surrealisten und macht 1936 ein Objekt, nennt es Le déjeuner en fourrure, welches als Pelztasse zur berühmten Ikone des Surrealismus wird – sogleich vom Museum of Modern Art angekauft und seither im kollektiven Gedächtnis der kunstaffinen Gesellschaft eingegraben. Das überaus wertvolle Pelzding hat für die Ausstellung Surrealismus Schweiz in Aarau eine Vertretung schicken müssen: Das Frühstück im Pelz hängt als Druckgrafik in der überaus spannenden Schau, die Peter Fischer, bis 2016 Direktor des Paul-Klee-Zentrums, zusammen mit Julia Schallberger vom Aargauer Kunsthaus eingerichtet hat.

Kurator Peter Fischer (ganz links) bei einer Führung im Kunsthaus Aarau.

Auch Alberto Giacomettis surrealistische Skulpturen sind bekannt, aber wie intensiv sich Schweizer Künstlerinnen und Künstler dem Thema Surrealismus widmeten und noch widmen, war weitgehend vergessen. Dank Surrealismus Schweiz mit rund 400 Schlüsselwerken und überraschenden Neuentdeckungen, Malerei, Fotografie, Skulptur und ein Video, wird eindrücklich dokumentiert wie sehr sich die Schweizer Bildende Kunst mit den surrealistischen Themen auseinandersetzte.

Kurt Seligmann, La deuxième main de Nosferatu, 1938.  Öl auf Sperrholz, 85,5 x 125 cm
Aargauer Kunsthaus, Aarau / Depositum der Gottfried Keller-Stiftung, Bundesamt für Kultur, Bern © Orange County Citizens Foundation / 2018, ProLitteris, Zürich

 

Plötzlich diese Übersicht ist zwar ein Werktitel von Fischli/Weiss, aber wenn Peter Fischer das Thema des Surrealismus als einer Haltung samt Techniken und Konzepten bis in die Gegenwartskunst durchzieht, ist diese Anleihe, denke ich, statthaft. Den Auftakt bildet keineswegs die berühmte Tasse oder eine von Alberto Giacomettis beklemmenden Käfig-Objekten, sondern ein Raum voll mit dem, was die offizielle Schweiz damals von ihren Künstlern wollte: Rückbesinnung auf die so genannten Schweizer Werte, Heimat und Heldentum. Dennoch haben selbst in diesem Klima Werke mit surrealistischen Ideen die Gunst sogar des breiten Publikums gefunden, verwiesen sei auf Hans Ernis gigantisches Wandgemälde für den Tourismuspavillon der Landi 39.

Hans Erni, Ausschnitt aus dem Wandbild Ferienland der Völker an der Landi 1939 in Zürich

Surrealismus ist auch eine kritische Haltung, eine Entgegnung zur verlogenen Heroenkunst und eine nonkonforme Möglichkeit, sich zu äussern. Automatisches Schreiben, ohne Zensur der Vernunft Denken und direkt aus dem Unbewussten Schöpfen sind gefragt, es wird collagiert, Albträume und Ängste, gespiesen von der Zeit der Wirtschaftskrise und des aufkommenden nationalen Wahns umgesetzt in Malerei. Sigmund Freud liefert die Theorie, der Nachhall der höllischen Schlachtfelder im ersten Weltkrieg das Traumatische in den Köpfen.

Fischer zeigt den Surrealismus nicht als Epoche der Kunstgeschichte, sondern knüpft bei den Übervätern Hans Arp und Paul Klee an, weitet die Sicht bis in die Gegenwart aus. Im Zentrum stehen freilich jene Künstler, die in den 30er Jahren der engen und rückwärtsgerichteten Schweiz der geistigen Landesverteidigung entflohen, nach Paris, später während und nach dem zweiten Weltkrieg auch nach New York oder im schlimmsten Fall heim und ins innere Exil. Vielleicht das augenfälligste Beispiel ist der Schaffhauser Werner Schaad, der enttäuscht ob dem Unverständnis, das ihm zuhause begegnete, desillusioniert Zeichenlehrer wurde. Zum Glück feiert er in dieser gross angelegten Schau mit seinen Bildern von Versehrten, Bedrängten und Eingesperrten ein Comeback. Auch Giacometti suchte nach seiner surrealistischen Phase – oft die Enge im Käfig als Metapher – immer verzweifelter einen Neuanfang, denken wir an seine Figuren, die bis fast ins Mikroskopische verschwinden.

Werner Schaad, Metamorphose im Raum, 1930. Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, Depositum Kunstverein Schaffhausen

Dagegen gelang Meret Oppenheim, die sich in den frühen Pariser Jahren trotz ihrer Genialität nicht durchsetzen konnte und aus Geldnot zurück in die Schweiz musste, viel später in der lebhaften Berner Kunstszene der 60er Jahre der Durchbruch, als grosse alte und immer noch sehr schöne Frau konnte ihr die Genderproblematik nichts mehr anhaben, und ihre sprudelnden Ideen und Assoziationen führten zu originären neuen Werken aus dem alten Fundus. Sie hatte übrigens am cadavre exquis, der aus der écriture automatique der surrealistischen Literaten entwickelten Kollektivzeichnung lebenslang ihren Spass (viele von uns kennen sie aus der Kindheit).

André Thomkins, Knopfei, 1973. Aargauer Kunsthaus, Aarau. Foto: Jörg Müller

So verbindet Oppenheims Kunst die Anfänge des Surrealismus um André Breton in Paris mit den späteren Generationen. Die Ausstellung zeigt, wie die surrealistische Bildfindung bis heute die Kunst prägt, wobei die Auseinandersetzung weniger düster und beklemmend, sondern oft heiter und witzig ist. Fischer stellt mit Deine Raumkapsel die Traumwelt von Pippilotti Rist in den Zusammenhang und bringt Thomas Hirschhorn, Ugo Rondinone und Not Vital in den surrealistischen Kontext ein. Von der mittleren Generation sind André Thomkins oder Ernst Eggenschwiler mit mehreren Arbeiten präsent – irritierend und dem Betrachter ein weites Feld der Assoziation überlassend. Eine grössere Werkgruppe bringt einem Eva Wipf mit ihrer düsteren Objektkunst, aber auch mit ihren Zufallsarbeiten mit der Kamera erneut ins Bewusstsein.

Fantastisches und Absurdes, Traumatisches und Bizzarres versammeln sich in den Werken, die üppig neben- und übereinander in den Räumen präsentiert werden. Wer sich darauf einlässt, muss sich mit einer vorwiegend düsteren Grundstimmung auseinandersetzen. Aber auf dem Erfahrungsteppich der 20er und 30er-Jahre ist die Auseinandersetzung mit dem Tod, dem verstümmelten, eingesperrten Körper, dem Leiden und dem Schmerz nicht auszuklammern.

Walter Kurt Wiemken, Der Photograph, 1932. Aargauer Kunsthaus, Aarau. Foto: Jörg Müller

Serge Brignioni, Gérard Vuillamy, Kurt Seligmann, Max von Moos haben ihre Formensprache in Paris gefunden, gehörten zum Teil zu den wichtigsten Künstlern in Bretons Bewegung. Andere wie Sonja Sekula fanden ihre Bildsprache zusammen mit den emigrierten Surrealisten in New York. Für Kurator Fischer eine besondere Freude, dass er Isabelle Waldberg präsentieren kann, unter anderem mit einer fragilen Costruction aus Buchenruten, die das Kunsthaus Zürich gehortet, aber noch nie gezeigt hat.

Isabelle Waldberg, Bildnis Marcel Duchamp auf einem alten chinesischen Schachbrett mit zwei Figuren und zwei Skulpturen, um 1978; Portrait Duchamp, 1958. Kunstmuseum Bern
© 2018, ProLitteris, Zürich

Da das Klima damals für die Avantgarde alles andere als günstig war, kam es sogar zu einem Zweckbündnis von letztlich gegensätzlich ausgerichteten Künstlern: Die Zürcher Konkreten schlossen sich ganz pragmatisch mit den Surrealisten nach einer ersten gemeinsamen Ausstellung zur Allianz – Vereinigung moderner Schweizer Künstler 1937 zusammen, während in Basel enttäuschte GSMBA-Mitgliedern um Otto Abt, Walter Bodmer und Walter Kurt Wiemken schon vier Jahre vorher die Gruppe 33 gegründet hatten.

Die Ausstellung Surrealismus Schweiz fordert in ihrer Reichhaltigkeit eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema geradezu heraus. Und der Katalog (59 Franken) – dem Sujet angemessen wunderbar gestaltet und sorgfältig aufgebaut – ist mehr als geeignet, sich mit dieser für die Schweizer Kunst so nachhaltige, einst von Pariser Literaten erfundenen Bewegung auseinanderzusetzen. Angesichts der Fülle der Werke und Namen kann es hilfreich sein, sich einer Führung anzuschliessen, obwohl man dank des Handouts mit den Saaltexten durch die von den Kuratoren ausgeheckte thematische Raumfolge gut geleitet wird.

bis 2. Januar 2019
Nach Aarau reist die Ausstellung in modifizierter Form nach Lugano ins Museo d’arte della Svizzera italiana (MASI)

www.aargauerkunsthaus.ch/ausstellungen/2018

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