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Nora im Life-Chat

Ein zwiespältiger Versuch: Henrik Ibsens «Nora oder ein Puppenhaus», ein Theaterklassiker, wird in der Zürcher Schiffbau-Box in die digitale Kommunikationswelt transformiert.

Nora ist seit Jahren mit Torvald Helmer verheiratet, der gerade zum Leiter einer Bankfiliale ernannt wurde. Doch dieser Karrieresprung ist gefährdet. Nora hat vor einigen Jahren die Unterschrift auf einem Schuldschein gefälscht und ihren Mann damit vor dem finanziellen Ruin bewahrt. Als Torvald davon erfährt, reagiert er mit Beschimpfungen und Furcht, obwohl er weiss, dass Nora aus Liebe zu ihm gehandelt hat. «Ich muss herauskriegen, wer Recht hat, die Gesellschaft oder ich.» Am Schluss von Ibsens 1879 erschienener «Nora» verlässt die Protagonistin ihren Ehemann und die gemeinsamen Kinder – eine Urszene der Emanzipation.

In Echtzeit chatten

Der russische Regisseur Timofey Kuljabin, bekannt für seine Neuinterpretationen alter Theaterklassiker, versetzt Ibsens Stück ins Jetzt und Heute. Seine Protagonisten leben in einer handygesteuerten Welt, kommunizieren untereinander fast ausschliesslich per WhatsApp und Facebook. Kann das einen Abend lang funktionieren?

Die Frage ist berechtigt. Der neue Zugang fordert von den Zuschauern ein gehöriges Mass an konzentriertem Hinsehen ab, denn man muss als Zuschauer fast drei Stunden lang nur Dialoge lesen. Die Schauspieler agieren unten und hinter Glas meist stumm, während oben auf der Leinwand auf den projizierten Handys kurz und bündig und in Echtzeit gechattet wird (Bühnenbild: Oleg Golovko). Er wolle dem Klassiker keine neue Interpretation hinzufügen, sagte der Regisseur im Vorfeld zur Aufführung. Ihm gehe es darum, die Geschichte in einer neuen Form zu erzählen.

Nur auf den Display starren, denn man will ja wissen, wie es weitergeht.

Die neue Form ist ein diskutabler Versuch, den Klassiker im Heute einzutopfen. Ist aber dieser Versuch inhaltlich weiterführend? Wohl kaum. Zu eindimensional sind die verkürzten Dialoge, das Face-to-Face-Erlebnis geht völlig verloren, der klassische Stoff wird zur reinen Lesart reduziert. Spannung kommt nur selten auf, denn man ist als Zuschauer ständig damit beschäftigt, die mit Emojis aller Art angereicherten Mitteilungen samt Tippfehler der vier Protagonisten (Nora und Torvard Helmer, Noras Freundin Christine Linde und Noras Erpresser Nils Krogstad) mitzuverfolgen.

Das Handy immer griffbereit

Der Life-Chat dominiert das Geschehen, während auf der Bühne die Darsteller in unterschiedlicher Zusammensetzung und Möblierung meist stumm das wohlfeile Leben in den nebeneinander aufgereihten und spartanisch eingerichteten Wohn- und Arbeitsräumen spielen. Ob beim Tanzen, beim Coiffeur, in der Küche, im Bad, im Kinderzimmer, in der Wohnstube, im Büro – das Handy ist immer griff- und einsatzbereit. Es gibt wohl die Momente der direkten Begegnung, des verbalen Austauschs, doch die sind leider dünn gesät, jedoch meist von eindringlicher Intensität.

Man ist so beschäftigt mit Lesen und Glotzen. (Fotos: Toni Suter / T+T Fotografie)

Es fällt schwer, die schauspielerische Leistung zu würdigen. Zu schemenhaft sind die einzelnen Rollen definiert, deren Gestaltungsmöglichkeiten durch die vorgegebene Inszenierung begrenzt. Am meisten überzeugen Fritz Fenne und Lisa Katrina Mayer als Ehepaar Torvald und Nora Helmer, die beide ihre komplexen Rollen nuanciert, aber fein austariert zur Geltung bringen, während Isabelle Menke eine etwas gar konturlose Christine Linde abgibt und Christian Baumbach den Rechtsanwalt Nils Krogstad eher harmlos erpressen lässt.

Weniger Konzept, mehr Drama, und Ibsens Geschlechterkampf aus dem 19. Jahrhundert müsste nicht so langweilig und anstrengend aussehen. Bleibt die Frage, ob das klassische Familiendrama mit seiner angelegten Härte und Klarheit durch die Transformation in unsere Kommunikationswelt bei jugendlichen Besuchern eher Gefallen finden wird. Am Premierenabend zeitigte die zeittypische Umsetzung nur mässigen Applaus.

Weitere Spieldaten: 19., 21., 22., 24., 27., 28. November, 1., 5., 5., 11., 12., 15., 17., 19., 27. Dezember, 3. Januar 2019.

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