StartseiteMagazinGesellschaftSeien wir realistisch – fordern wir das Unmögliche!

Seien wir realistisch – fordern wir das Unmögliche!

Eine Art Schlussabend zum 50. Jubiläum der 68er Bewegung mit Büchern und Musik

Bald ist es vorüber, das Jubiläumsjahr zur Protestbewegung 1968. Der Ausspruch „Seien wir realistisch – fordern wir das Unmögliche!“ stand damals auf vielen Wänden in Europas Städten und wurde jetzt gern zitiert in Zeitungsartikeln und Büchern, Reportagen und Ausstellungen in diesem Jahr. Noch bis ins nächste, bis zum 20. Januar 2019 zieht sich die Ausstellung Imagine ‘68 im Landesmuseum, die umfassend von damals erzählt, über die kreativ-kunterbunte Szene genauso wie über den zuweilen harten Kampf um eine andere, bessere Gesellschaft.

Cool und nostalgisch: Anna and the Lost Boys im Sphères bei der 68er Party

Eine Bücher-Abschluss-Party zu dem Jubel- oder Gedenkjahr veranstaltete im November das Sphères, Zürcher Bar und Buchladen mit Bühne. Angekündigt wurde ein „wehmütig-beschwingter Abend“ mit Musik und Lesungen von Ueli Mäder, dem Basler Soziologen, von Adrian Naef, dem Dichter, und von Res Strehle, dem Journalisten. Sie waren jung und aktiv dabei, als gegen den Vietnamkrieg, den Schahbesuch in Berlin, für ein autonomes Jugendzentrum demonstriert wurde. Zu der fast globalen Bewegung zählen auch der Pariser Mai und der Prager Frühling. Früher oder später gab es ein böses Erwachen aus dem Traum für eine bessere, buntere und vor allem friedlichere Welt.

Mal skurril, mal todtraurig: Adrian Naef liest seine Gedichte

Adrian Naef (*1948) las aus seinem neuen Gedichtband Moonshiner. Der Bauernsohn aus Wallisellen, Revolutionär mit ökonomischen Kenntnissen, Radiopirat, Liedermacher, Heilpädagoge und lebenslang immer wieder literarischer Autor war, erinnerte daran, dass die 68er Bewegung vieles, was heute selbstverständlich sei, erst möglich machte, und ergänzte mit einem Augenzwinkern, dass die heutigen Alten „mit dem Jeanskäppli ins Altersheim gehen, die nächste Generation ist dann tätowiert.“

Res Strehle (*1951) hatte schon vor zehn Jahren Mein Leben als 68er gemeinsam mit Berufskollege Eugen Sorg aufgeschrieben. Der pensionierte Tages-Anzeiger-Chefredaktor stellte nun sein literarisches Buch Salinger taucht ab vor, eine vertrackte Geschichte mit einem recherchierenden, jedoch auch verunsicherten Journalisten als Erzähler, der von einem Patienten in einer psychiatrischen Klinik Sonderbares erfährt.

Zwei ältere Herren blicken zurück auf bewegte Jugendjahre: Ueli Mäder (links) und Res Strehle im Gespräch

Als dritter gab Ueli Mäder (*1951), Einblick in seine umfangreiche Porträtsammlung 68 – was bleibt? Der emeritierte Soziologieprofessor erinnerte im Gespräch mit Strehle daran, dass die ökumenische und sozial engagierte Gründergruppe der Erklärung von Bern (heute Public Eye) mit ihrer Reaktion auf die „konsumistische, bürokratische und autoritäre Gesellschaft“ damals sehr wichtig war. Die Observierung in Familie, Schule, Beruf – Stichwort Fichenskandal – führten zur Ablehnung von Autoritäten, wobei das Antiautoritäre unter Umständen auch sehr autoritär und dogmatisch postuliert wurde. Ueli Mäder fand Zustimmung in seiner Analyse, dass sich die Bewegung schwächte, durch die ideologische Verengung gegen Reformisten, statt dort Bündnispartner zu suchen. Zustimmen konnten die versammelten 68er dem Soziologen erst recht, dass es „keine Alternative zum mühsamen Versuch gibt, zu differenzieren“, dass ein Populismus von links, mit dem Parteistrategen und Wahlkämpfer mitunter liebäugeln notgedrungen scheitern müsse.

Einmal Lyrik, einmal literarische Fiktion, einmal Dokumentation. Zu den Lesungen mit Gesprächen und Musik von Anna and her Lost Boys, einer Formation mit zwei alten Sängern, einer ist Adrian Naef, die Ukulele, Gitarre, Schlagzeug bedienen und der jungen Bassistin Anna, hatten sich nicht nur Nostalgiker mit Jahrgang 1950 minus eingefunden, sogar einige aus der Enkelgeneration hörten interessiert zu. Ihre Eltern sind schliesslich auch eine Art 68er, wenn man nach dem Geburtsjahr fragt. Diese 50jährigen hat Ueli Mäder in seine Recherchen ebenso einbezogen wie die 70jährigen 68er.

Die üppige Materialsammlung, er hat rund hundert Protagonisten und Gewährsfrauen befragt, liegt thematisch so gruppiert vor, dass eine realistische Chronik jener Jahre entsteht. Und Mäder fasst zusammen, wertet, nimmt Stellung und ordnet ein. Zum Beispiel wenn es um die oft breitgewalzte These geht, dass vor allem junge Männer aus besten Verhältnissen die Bewegung anführten – theoretisch und praktisch. Eine Proletarier-Revolution sei die 68er-Bewegung nicht gewesen, schreibt Mäder, kulturelle Ziele und Forderungen spielten neben politischen und sozialen eine grosse Rolle. Seine Herkunft könne man wohl kaum überwinden, aber: „Wer seine Herkunft radikal abstreifen will, läuft umso mehr Gefahr, sie unbewusst zu reproduzieren.“ Unterstützt werden die Schlussfolgerungen mit Zitaten. Mit dem auf sieben Kapitel verteilten Material von der Annäherung an den Gegenstand über den Aufbruch in der Schweiz oder Projekte und Debatten bis zum Fragezeichen des letzten Abschnitts Und jetzt?, entsteht eine historisch-soziologische Collage jener Zeit mit ihren Folgen bis in die heutige Gesellschaft, und das dicke Buch ist erst noch eine spannende, bisweilen unterhaltende Lektüre. Der kritisch-linke Soziologe Ueli Mäder schreibt für ein breites Publikum, nicht für akademische Kolloquien. Statistiken sucht man vergeblich, die gültigen Inhalte ergeben sich aus der Menge der sorgsam gebüschelten Aussagen.

Für jene, die damals aktiv mitmachten oder interessiert mitverfolgten, was geschah, ist Mäders Buch auch eine Quelle der Freude. Wie Kinder auf Wimmelbildern entdecken wir bei der Lektüre laufend Menschen, die wir damals aus Projekten oder von Happenings oder auch einfach so kannten, messen ihre rückschauenden Aussagen über ihre Befindlichkeit und ihre Ziele an unserer Erinnerung, erfahren wieder neu, dass auch Prominente wie etwa Peter Bichsel oder Ruth Dreifuss und Jean Ziegler ihr 68 lebten.

Fotos: E. Caflisch

Adrian Naef: Moonshiner. Gedichte und Songs, 254 Seiten, Frankfurt a.M. Weissbooks, 2017. ISBN 978-3-86337-123-4

Res Strehle: Salinger taucht ab. Roman. Zürich, Elster-Verlag, 2018. ISBN: 978-3-906903-06-4

Ueli Mäder: 68 – was bleibt? 368 Seiten, mit Bildteil von Claude Giger. Zürich, Rotpunkt-Verlag, 2018, ISBN 978-3-85869-774-5

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