StartseiteMagazinKulturVerletzliche Körper: Lust, Nähe und Gewalt

Verletzliche Körper: Lust, Nähe und Gewalt

Das Kunsthaus Bregenz (KUB) zeigt mit dem Titel DAS GENAUE HINSCHAUEN Werke von Miriam Cahn, Powerfrau und Künstlerin des Jahres.

Die architektonische Ikone des KUB mit ihren langen Verbindungstreppen zwischen den Stockwerken ist dafür bekannt, auf jeder Etage eine neue Überraschung bereitzuhalten. Im Foyer aber wirkt die Serie aus dicht gehängten Scans eigener Bilder eher nüchtern.

Dramaturgisch überraschende Ausstellung

Im ersten Stock frage ich die für die Aufsicht zuständige Person, ob diese Etage nicht etwas monoton sei, wenn man so lange im Raum mit diesen Bildern präsent sein müsse.

DAS GENAUE HINSCHAUEN, 2019. Ausstellungsansicht, Kunsthaus Bregenz

“Nicht unbedingt“, antwortet sie, „ sie zeigen das Leben. Aber steigen sie nur weiter hinauf. Dort oben wird’s bunt!“ Und sie hat Recht. Steigt man so Stockwerk um Stockwerk nach oben, steigt auch die Erwartung. Ich entscheide mich gegen den Lift. Und die Geduld wird belohnt.

Düstere Riesenformate

Im zweiten Geschoss sind Miriam Cahns großformatige Zeichnungen aus dem Jahr 1982 zu sehen – politische und gesellschaftskritische Bilder. Cahn malte auf dem Boden kniend eine düstere expressive Serie, mit vollem Körpereinsatz, dynamisch, zornig. Zum Teil mit geschlossenen Augen.

Besucher vor dem auch heute noch aktuellen Bild von 1982: beirut, beirut, , ♂-schiff, Kreide auf Architekturpapier

 

Diese Bilder zeigen monumentale, aggressiv assoziierte Formen, Kriegsschiffe, eine Ölplattform oder die Türme des damals noch stehenden World Trade Centers. Spannend und bereichernd dieser Rückblick in eine frühere Schaffensperiode, und lohnend diese Serie mit Martin Dislers bis zum 26. Mai noch im Bündner Kunstmuseum gezeigtem Panoramabild Die Umgebung der Liebe aus dem gleichen Zeitraum zu vergleichen (dazu gibt es einen Beitrag in diesem Magazin).

Körper – schutzlos, provokant und nackt

Dicht gehängt sind aktuelle Grossformate das zentrale Thema auf der obersten Etage. Die Themen gehen von Lust, Sex und Liebe bis zur Gewalt. Diese Körper sind Träger starker Emotionen, von engen Umarmungen bis zu provokant Tabu brechenden Beziehungen – von behutsamer Einfühlung bis zur ungesteuerten Aggression.

Ohne Titel, 20.06.2018

Androgyne Mischwesen setzen geheimnisvoll Akzente in diesem ungewöhnlichen figurativen Werk. Der Blick ist oft leer, unbestimmt in die Ferne gerichtet, zornig, auch nach innen gewandt, aber immer herausfordernd auf Augenhöhe. Diese Augen stellen uns. Sie schauen und ihre Münder sprechen nicht, können nicht sprechen, würden vielleicht schreien, oder schon nicht mehr.

Cahn zeigt einen Faustschlag. Eine Linke fährt dem dunkelhäutigen Opfer geradewegs ins Gesicht. Der Täter ist möglicherweise ein weisser Mann – unvermittelt brutal beziehungslos.

Weiss schlägt schwarz, 22.07.2018

Beziehung der Geschlechter

Das Motiv drastischer Gewalt kehrt in Varianten wieder. Cahns Message könnte lauten: Frau muss nicht lieb sein, wenn einer dumm kommt. Frau kann sich wehren, wie die #MeToo-Debatte zeigt. Schon im Bildtitel als undarstellbar bezeichnet: die Scham einer verschleierten Frau. Den hellgrauen Niqab hat sie hochgezogen. Der Blick zeigt Angst und Ohnmacht. Die Hände wehrlos. Das ist Miriam Cahns enthüllender Kommentar zur  Scheinheiligkeit der Burkadebatte.

Überlebende (undarstellbar) 13.06.1998

Daneben Porträts und Szenen, immer wieder Nackte: Frauen, Männer, Kinder. Ihre Verlorenheit ist abgrundtief. Sie werden in ihrer Verwundbarkeit gezeigt: als Opfer und als Täter, im Begehren und in der Vereinsamung, sexuell erregt und zärtlich umschlungen, um Hilfe rufend, masturbierend oder tot.

Was heißt das eigentlich heute, dieses Frausein?

Miriam Cahn ist geprägt von der Frauen- und Friedensbewegung. Sie bricht lustvoll Tabus, provoziert und nennt die Dinge beim Namen. Es darf ruhig wehtun. Das Begehren und die weibliche Sexualität sind zentral – die Frau als sanftes Wesen, das sei verlogen. Sie ist weit davon entfernt, altersmilde zu sein – im Gegenteil: «200 Mal am Tag empöre ich mich. Der Zorn ist ein guter Motor.»

händehoch/entblösst 23.+24.06.2018

Miriam Cahn (*1949 in Basel) lebt im Bergell. Von dem Sender Arte wurde sie zur Künstlerin des Jahres gekürt. Schlagartig berühmt wurde sie, als sie nach ihrem öffentlich auf der Brücke gezeichneten Protest gegen den Bau der Nordtangente in Basel strafrechtlich verfogt wurde. Cahn wurde an die Biennale in Venedig und an die documenta in Kassel eingeladen.

Träumen, 20.07. 2018

Zu ihrem 70. Geburtstag finden mehrere Ausstellungen statt. Die bedeutendste ist die umfangreiche Werkschau im Kunstmuseum Bern Miriam Cahn. Ich als Mensch bis 16. Juni, welche danach Station im Münchner Haus der Kunst vom 12. Juli bis zum 27. Okober und im Museum für Moderne Kunst, Warschau vom 29. November bis zum 23. Februar 2020. Die Besprechung der Berner Ausstellung von Fritz Vollenweider können Sie hier nachlesen.

Teaserbild: o.t., 13.07.2018 (Ausschnitt)
Alle Bilder :
 Courtesy of the artist © Miriam Cahn (Fotos: Justin Koller)
bis 30. Juni
Informationen zur Ausstellung und zum Kunsthaus Bregenz finden Sie hier.

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