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Meditation auf dem Berg

Cicero erinnert, dass ein Leben ohne Dankbarkeit ein verfehltes Leben ist.

Um der Hitze der letzten Tage zu entfliehen, zog ich mich auf die Rigi zurück. Dort wehte am Morgen jeweils ein leichter, kühler Wind. Die Rigi ist der vorgeschobene Berg der Alpen. Sie hält das hohe Gebirge in Distanz. Der nahe Pilatus, der Hausberg Luzerns, ist der kantige und steile Nachbar zur sanft dahinfliessenden Rigi-Kette. Auf dem Kulm, dem Gipfel der Rigi, eröffnet sich ein herrlicher Blick auf das einzigartige Rundpanorama – von den Glarner-Alpen  über das Mittelland, den Schwarzwald, die Vogesen, den Jura, den Pilatus und den dahinterliegenden Walliser-Alpen. Die stolzen schneebedeckten Berner erscheinen wie Hochaltäre, und der Titlis und die stolzen Urner sind zum Greifen nah.

Nachdem der rötliche Schimmer des Sonnenaufgangs schon in das Blau des Tages übergegangen war, wanderte ich auf den Gipfel. Im Osten, der Sonne entgegen, krochen aus den Tälern und um die Hügelzüge leichte Dunstschwaden, als zögen die Spitzen einen grauen Schal um ihre Köpfe. Sie markierten plastisch die Tiefe der Gegend, die zum weit entfernten Säntis im Alpsteingebiet zieht. Ich wanderte gemächlich und noch mit einem schweren Tritt den Weg hinauf zum Gipfel und beobachtete, wie die Wiesen in der höher steigenden Sonne vom Dunkelgrün ins helle Grün des Tages wechselten. Von weit unten drang, etwas gedämpft, das Bimmeln der Glocken und Treicheln des weidenden Viehs bergwärts und hellte mein Gemüt auf. Es begleitete meine Morgenandacht wie ein fröhliches Orgelspiel. Ich konnte mich an den Bildern der Landschaft kaum satt sehen und verstand, dass Goethe seinen Wanderfreunden 1775, auf dem Gipfel ankommend, zurief: «Rings die Herrlichkeit der Welt!»

Im Gefühl dieser Morgenstimmung setzte ich mich, vom Gipfel leicht absteigend, auf eine Bank mitten in die Wiese und meditierte über mein Leben. Da ich, wie ich es immer tue, wenn ich fort gehe, eine kleines Buch in der Tasche meiner Jacke mittrug, hatte ich das Bedürfnis, mit dem Autor in den Dialog zu treten. Er redete mich aus weiter zeitlicher Ferne an. Es war Cicero (106-43 v. Chr.), der grosse Staatsmann und Philosoph, von dem ich im dünnen Band Ausschnitte aus seinen Reden und Abhandlungen versammelt fand. Ich schlug aufs Geratewohl die Seiten auf und las: «Dankbarkeit ist die Mutter aller Tugenden», ein Text, der mit dem Satz beginnt: «Ich wünsche mir, alle Tugenden mein eigen zu nennen, besonders aber hätte ich nichts lieber, als dankbar zu sein und auch so angesehen zu werden.»

Dieser Satz sprach das Gefühl an, das mich im Augenblick beherrschte, denn ich war Gast in Gottes freier Natur und glücklich, dass sie mich in früher Stille aufnahm. Viel Gutes ist mir im Leben geschenkt worden, dachte ich, gerade auch jetzt wieder an diesem Morgen. «Nichts, was gelingt, ist selbstverständlich und was misslingt oder dir genommen wird», redete ich mit Cicero, «gehört zur Schickung des Daseins». Du bist willkürlich aus Rom verbannt worden, aber du hast das Geschick benutzt, um über den Lauf der Dinge nachzudenken. Ich selber wurde gut im Weltwinkel aufgenommen, in den hinein ich geboren wurde. Ich fand ein Betätigungsfeld vor mir, das mich förderte und forderte und hatte die Möglichkeit, mitzuwirken am Gedeihen von Menschen, sei es als Lehrer oder als Politiker, und darf dies mit Schreiben noch immer tun. Ich habe Grund, dir verehrter Cicero zu glauben, wenn du sagst:  «Was sind denn die rechtschaffenen Bürger … anderes als Menschen, die sich der Wohltaten ihres Vaterlandes bewusst sind?»

Da sprach einer über Jahrhunderte hinweg mit mir und erinnerte mich, dass ich selbst allen Grund habe, dankbar zu sein. Wir leben in einem Staat, der der Maxime folgt, die stets wacklige Gleichgewichtslage wiederherzustellen, wenn sie schief zu liegen kommt. Er ist bestrebt, ausgleichend zu wirken, und was nicht gut geregelt ist, stets zu verbessern. Da ist selbstredend auch der Einzelne gefordert. «Ich bin der Meinung», sagte Cicero, «dass dem Menschen an sich nichts so eigen ist, als sich nicht nur durch eine gute Tat, sondern auch durch ein Zeichen guten Willens verpflichtet zu fühlen.» Ich mochte mich an diesem Morgen nicht an undankbare schimpfende und kritisierende Menschen erinnern, denn es war mir bewusst, dass, wer nicht dankbar ist, in seinem Dasein verarmen wird.

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