Wir leben in einer «Subito-Gesellschaft». Wir werden ungeduldig, wenn sich der Computer nicht auf Knopfdruck öffnet. Der Eindruck, dass alles schnell geht und gehen muss, erfahren wir Senioren oft auf Bahnhöfen. Da laufen und stürmen die Leute an uns vorbei. Manchmal stoppen uns ältere Menschen, die noch langsamer gehen als wir. «Können die nicht schneller gehen?», blitzt ein Gedanke auf. Wir möchten sie überholen und beschleunigen die Schritte. Plötzlich fällt uns ein, dass es nur noch zwei drei Jahre dauert, bis auch wir zu denen gehören, die mit gebremstem Schritt durch den Bahnhof gehen. Die Einsicht ruft nach Gelassenheit, oft nicht nach einer verinnerlichten, sondern nach der körperlich bedingten. «Du bist», sagt die innere Stimme, «im hohen Alter angekommen. Wenn du die Gnade der Geduld hast, fügst du dich dem langsamen Schritt.» Das Alter sucht nach seinem angemessenen Rhythmus. Wer ihn nicht findet, hadert und ist unzufrieden.
Die Vorstufe zu einem bescheidenen Glück ist die Zufriedenheit. Man muss sich in dem einrichten, was man kann, aber man sollte es noch tun. Dabei ist es egal, was man macht. Meistens verfolgt man im Alter, was man ein Leben lang getan hat, nun aber in spielerischer, lockerer Form. Ich kenne einen Freund, der arbeitete in Zug in der Zählerfabrik der Landis&Gyr. Er sammelte aus Leidenschaft elektrische Geräte, die ausgedient hatten, aber einst Innovationen waren. So entstand im Laufe seines Lebens ein kleines Museum. Jede Begegnung mit ihm machte Spass, weil er viel zu erzählen wusste und noch immer versuchte, seine Sammlung zu ergänzen. An ihn denkend erinnere ich mich an einen Satz von Albert Camus, den er in seinen Tagebüchern notiert hat: «Ein echter Schaffender ist organisch dem Gesetz der Lust unterworfen.» Wir können den Satz von hinten nach vorne lesen: Das Gesetz der Lust spornt an zu schaffen, und das bedeutet: Du kannst gar nicht nichts tun, sonst erlebst du keine Lust.
Kühn wie Camus war, behauptet er, er habe als Schaffender dem Tod selbst Leben verliehen. Das sei alles, was er zu tun habe, ehe er sterbe. Leider verunfallte er bei einem Autocrash mit einem Freund in der Fülle seiner Jahre. Was er aber getan hat, lässt uns über seinen Tod hinaus teilnehmen an seinem Schaffen. Vielleicht liegt darin oft das bescheidene Glück des Schriftstellers und des Künstlers. Camus hat sich in seinem Werk «Der Mythos von Sisyphos» mit der Absurdität des Lebens beschäftigt, aufgezeigt, wie viel Misstöne, Ungereimtheit, Gefühle der Ausweglosigkeit das Leben dem Menschen aufbürdet. Camus zieht daraus aber nicht den Schluss, das Leben sei absurd und sinnlos.
Der griechische Held Sisyphos baute die Stadt Korinth und wurde übermütig. Er fesselte den Gott des Todes, weil er fand, es sei absurd, dass die Menschen sterben müssen. Die Götter lassen die Fesselung des Totengottes Thanatos nicht zu und strafen Sisyphos. Er muss einen Felsbrocken auf den Berg wälzen. Im Schweisse seines Angesichts schiebt er ihn auf den Gipfel, wo er ihm jedes Mal entrollt. Sisyphos steht wieder am Anfang seiner Arbeit, die ihm unsinnig erscheint. Soll er daran verzweifeln? Camus kommt zum überraschenden Schluss: «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.»
Der Kampf gegen den Gipfel wird zum Symbol des Lebens. Die Arbeit geht nie aus. Sie darf nicht ausgehen und sei sie noch so einfach. Sie ruft den Menschen zur Tat, woraus er seine Lust zieht. Das Beispiel des Sisyphos zeigt, dass auch eine scheinbar sinnlose Arbeit den Menschen fordert. Erst, wenn keine mehr von ihm gefordert wird, stellt sich das Gefühl der Absurdität ein. Der Mensch erlebt sich als Unglücklicher. Dieses Gefühl macht das Alter oft schwer und führt zur Klage: «Ich bin nicht mehr gefragt. Ich nütze nichts mehr. Ich habe keine Aufgabe mehr. Niemand braucht mich.» Die letzte Arbeit des Lebens ist vielleicht die schwerste, es ist die Mühe mit sich selbst. «Ich schaffe es noch.» Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört, und über das Gesicht des Menschen, der ihn flüsterte, ging ein leises Strahlen.