Das letzte Viertel des Lebens dauert heute bei vielen Menschen 25 Jahre. Sie sind oft noch rüstig und leben bis 90 und länger. Da ist nicht mehr die alte Zeit des Ruhestands. Vielmehr geht es darum, dieser Zeit, frei von Erwerbszwang, einen Sinn zu geben. Mit Ruhe ist da nichts und mit einigen grossen Reisen wenig zu machen. Der Mensch bleibt tätig, aber wie soll er die Zeit sinnvoll verbringen? Der Philosoph und erfolgreiche Vortragsredner Ludwig Hasler plädiert «Für ein Alter, das noch was vorhat»*, so der Titel seines so eben erschienenen Buches, mit dem Untertitel «Mitwirken an der Zukunft». In einer zum Teil aufmüpfigen, träfen und sehr anschaulichen Sprache schildert er, was es heisst, an der Zukunft im hohen Alter mitzuwirken. Glücklich ist, wer im Alter noch gebraucht wird oder sich bereit hält für freiwillige Aufgaben in Familie und Gesellschaft. Haslers Werk ist kein Rezeptbuch, sondern ein kräftiger Appell an Pensionierte, im Kleinen oder im Grossen mitzuhelfen, dass eine bessere Zukunft möglich wird. An Beispielen zeigt das Buch auf, wie Hilfe konkret erfolgen könnte. Ich greife aus dem lesenswerten, sehr anregenden Buch ein Stelle heraus, die bildlich zeigt, um was es dem Autor geht.
Bertolt Brecht (1898-1956), der einflussreiche Dramatiker und Lyriker, verlor, als er in der Charité (dem grössten Berliner Krankenhaus) eines Morgens erwachte, die Furcht vor dem nahen Tod. Er hörte eine Amsel singen und er dachte, „dass ja nichts mir fehlen kann, vorausgesetzt ich selber fehle. Jetzt gelang es mir, mich zu freuen alles Amselgesanges nach mir auch.» Das war das Schlüsselerlebnis für den guten Tod. Die Amsel würde weiter über seinen Tod hinaus viele Menschen erfreuen. Der Satz ist wie eine Metapher. Der Mensch ist das Wesen, das sich über seinen eigenen Tod hinaus denken kann. Weil er wie die Amseln tut, überlebt er im Gedenken vieler Menschen seinen Tod. Brecht durfte für sich beanspruchen, mit seinen Werken ein Teil seines Amselgesanges nach ihm auch zu sein.
Oft kann ein einziger, poetischer Satz mehr sagen als eine lange Erklärung oder ein nüchterner Nekrolog. Auf Todesanzeigen werden tröstende Worte erwähnt. Da steht etwa: „Wir werden dem Verstorbenen ein treues Gedenken bewahren.“ Ja, unter welchen Umständen denn? Wenn sie, die Hinterbliebenen, von ihm mitbekommen haben, was an ihn dankbar weiterdenken lässt. Sie freuen sich „alles Amselgesanges“ nach ihm auch. Im Bild drückt der Dichter aus, dass der verstorbene Mensch allein durch sein Tun und Wirken Dankbarkeit erworben hat. Handelt es sich nicht um einen Menschen, der sich egoistisch in sich verkrochen hat, sondern um einen, der noch mitgewirkt hat an ihrer Zukunft, dann wird über ihn immer warmherzig und achtungsvoll gesprochen werden. Er selber, der Verstorbene, wird zwar nicht erleben, was geworden ist, an dem er mitgeholfen und Impulse gegeben hat. Doch weil er etwas getan hat, das ihn überdauert, wird er im Gedächtnis bleiben. Er hat mit seinem „Amselgesang“ selbst Freude und Glück erlebt, hat Sinn in sein Leben gebracht. Er ist ein ganzer Mensch geworden. Er strahlt über das hinaus, was in ihm webte und wirkte.
Dem Menschen wird mit der Geburt viel aufgetragen. Er tritt in einem grandiosen Welttheater auf, muss seine Rolle finden und schauen, dass das Beste in ihm nicht abstirbt. Glück und Gesundheit kann er nicht erzwingen und ebenso wenig die Liebe. Sind sie ihm zugefallen, kann er zufrieden und glücklich sein. Ich habe im Gedicht „Vögel sterben leise“ eine Frage gestellt:
„Vögel sterben leise, und die Liebe…
Am Morgen kommt ihr Lied
an mein Bett,
feierlich und voller Lebenslust,
vielstimmig und nicht im Chor.
Darüber das Lied der Amsel
vom Giebel des Bauernhofs nebenan,
von der Birke um die Ecke.
Wenn der Frühling vorbei ist,
verklingen die Lieder.
Und die Liebe?“
Ist die Liebe denn nicht so etwas wie „alles Amselgesanges nach mir auch“? Sorgt sie nicht dafür, dass sie in den Geliebten eine Zukunft hat? Hat sie nicht geholfen, dass ein anderes Leben gelingt? Wirkte sie nicht kräftig mit „für ein Alter, das noch was vorhat?“ Verklingt das Lied, bleibt die Lebensmelodie zurück, nicht selten mit einem Dank: „Du hast uns mitgegeben, was unser Leben stark macht.“
*Ludwig Hasler: Für ein Alter, das noch was vorhat. rüffer & rub, 2019 – Fritz Vollenweider hat dieses Buch vor kurzem vorgestellt.