StartseiteMagazinKulturAus dem maghrebinischen Absurdistan

Aus dem maghrebinischen Absurdistan

Der Marokkaner Alaa Eddine Aljem unterhält uns in seinem Erstlingsfilm «Le Miracle du Saint Inconnu» schmunzelnd und augenzwinkernd mit absurden Erzählungen aus dem Maghreb.

Mitten in der Wüste rennt Amine, eine Tasche mit gestohlenen Vermögen in der Hand, die Polizei auf den Fersen, und vergräbt dieses in höchster Eile auf einem Hügel. Als er zehn Jahre später zurückkommt und sein Geld suchen will, steht dort ein Mausoleum, wohin Menschen pilgern, um den zu verehren, der dort begraben sein soll, den «unbekannten Heiligen». Der Dieb steigt in einer Unterkunft des nahen Dorfes ab und setzt alles daran, sein Geld zurückzubekommen. Dabei erfahren wir nach und nach mehr und mehr vom Leben und den Glaubensgewohnheiten der Bewohner.

Bei meiner ersten Visionierung habe ich gespürt, dass es sich hier um ein gelungenes Werk absurder Poesie handelt; erst beim zweiten Mal habe ich die einzelnen Kurzgeschichten und den ganzen Film allmählich verstanden. Indem ich versuchte, die Einzelgeschichten so zu lesen, wie man die Perlen einer Gebetskette durch seine Finger gleiten lässt und dabei einen Text murmelt. Der Finne Aki Kaurismäki ist ein Meister dieses Genres, der Palästinenser Elia Suleiman ein Wesensverwandter. Zu den Altmeistern gesellt sich hier der junge Marokkaner Alaa Eddine Aljem, dessen Figuren einfach da sind und uns überraschen.

Arztgehilfe und Arzt

Ein Feel-Good- und Think-Good-Film 

Das Mausoleum im Mittelpunkt der Handlung steht unter Beobachtung eines Dorfes voll seltsamer Figuren. Zum Beispiel einem Friseur, der auch Zähne zieht, einem eigenartigen Arzt- und Arztgehilfenpaar, einem Mausoleumswächter und einem Hund mit Goldzähnen sowie Brahim, der das trockene Land kultiviert und hofft, dass demnächst Regen fällt, und seinem Sohn Hassan, der mit seinem Nachbarn auswandern will. Wie bekommt aber Amine sein Geld zurück? Diese Frage steht weiter im Zentrum. Wie eine Metapher unserer Zeit wirkt das Mausoleum, das man auf Geld gebaut hat, das Diebesgut ist. Dabei kann man lächeln und sich vom Schicksal der Menschen berühren lassen. Das Absurde und Burleske den Films steht im Dienst von Emotionen und Reflexionen. Eine Good-Feel- und gleichzeitig eine Think-Good-Film!

Das Mausoleum als Wallfahrtsort

Credo quia absurdum 

Alaa Eddine Aljem, der marokkanische Regisseur, spielt in seinem ersten langen Film mit kurzen Szenen. Dazu lädt er uns in eine Wüste ein, um uns dort ein anderes Leben kennenlernen zu lassen. In humorvollem, neckischem Ton behandelt er Themen des Lebens, indem wir mit dem Glauben und Aberglauben der Menschen konfrontiert werden: Der Dieb hofft, seine Beute zurückzugewinnen, die Dorfbewohner erhoffen den Segen des unbekannten Heiligen, Vater und Sohn warten auf den rettenden Regen oder wollen auswandern. Summa summarum: ein «Credo quia absurdum» (ich glaube, weil es absurd ist).

Die folgenden Äusserungen des Regisseurs helfen wohl, da und dort den Film bessere zu verstehen.

Sohn Hassan mit Vater Brahim

Aus einem Interview mit dem Regisseur Alaa Eddine Aljem 

Könnte man «Le Miracle du Saint Inconnu» als burleske Fabel beschreiben?

Ich mag das Wort Burleske. Was diesen Film am besten definiert, ist sein Ton, eine Mischung aus Situationen, einige davon komisch, andere dramatisch. Es ist eine moderne Fabel, die vom Absurden durchzogen ist, was der Geschichte zusätzlichen Geschmack verleiht. Es ist ein Ensemblefilm mit mehreren Charakteren, eine burleske Geschichte über die Beziehung zum Glauben, eine Studie über die Transformation einer Mikrogesellschaft und ein Film über den Wandel. Modernes entsteht und erschüttert die Gesellschaft in ihrem Volksglauben. Es gibt zwei koexistierende Lebensstile und Denkweisen. Das Zeitgenössische wird durch den Dieb und den Arzt verkörpert, das Traditionelle durch die Mikrogesellschaft des Dorfes, welche umkreist und verbunden wird durch den «Heiligen». 

Ist das Dorf als ein Mikrokosmos Marokkos zu betrachten?

Ja, bis zu einem gewissen Grad. Das Land befindet sich in einer kritischen Phase. Das Leben unter Hassan II war ziemlich hart. Mohamed VI brachte Veränderung: Er wollte das Land modernisieren und die wirtschaftlichen Aktivitäten diversifizieren. Er war ein junger König, der grosse Hoffnung mit sich brachte. Heute ist dieser frische Wind abgeklungen. In Marokko spüren junge Menschen die Notwendigkeit eines neuen Projekts. Die Beziehung zum Glauben und zum Gerücht definiert quasi den durchschnittlichen Marokkaner. Wir haben die Fähigkeit, Legenden ex nihilo zu erschaffen. Wir müssen an etwas glauben, sei es spirituell, ideologisch oder materiell. Und im Falle unseres kleinen Dorfes bedeutet das einen absurden Glauben. Die Bewohner glauben so stark daran, dass es wahr wird.

Wie kamen Sie auf die Idee dieses Dorfes, das einen unbekannten Heiligen verehrt?

Meine Mutter kommt aus dem Süden Marokkos, den wir als Kind oft durchquert haben, und ich habe immer noch Bilder davon vor Augen: die kleinen, weissen Gebäude, mal auf einem Hügel, mal verstreut inmitten von freiem Gelände. Ich fand das sehr schön, aber ich wusste nicht wirklich warum. Dann viel später entdeckte ich eines dieser Mausoleen. Ich stieg hinauf. Es war kein Name ersichtlich. Ich fragte die Wache: «Was ist das?» «Das Mausoleum eines sehr mächtigen Heiligen», antwortete er. «Um ehrlich zu sein, ich weiss es nicht.» In Marokko gibt es viele solcher Mausoleen. Ein sehr berühmtes mit einer lustigen Geschichte: Ein Dorfbewohner besass einen Esel, den er liebte. Als dieser starb, wollte er ein Grab für ihn bauen. Er konnte ihn natürlich nicht auf dem Dorffriedhof begraben, also tat er es am Rande des Dorfes. Später bauten die Leute ein Mausoleum über dem Grab und er wurde zu einem berühmten Heiligen, obwohl wir wissen, dass es eigentlich ein Esel war.

Der Film ist eine Satire auf Leichtgläubigkeit, aber keine Anklage gegen die Religion.

Es geht überhaupt nicht um Religion; es geht um den Glauben. Sei es der Glaube an den Regen, der nie kommen wird, an ein Allheilmittel, das alle Übel heilt, an die Möglichkeit, eine seit Jahren begrabene Tasche mit Geld wiederzufinden. Oder den Glauben an die Wunder eines «Heiligen», dessen Geschichte unbekannt ist. Eine Reihe von Charakteren sind mit Fragen des Glaubens und mit der Absurdität des Lebens konfrontiert, und ihre Wege kreuzen sich an einem Ort, der all dies symbolisiert. – Die Regisseure meiner Generation sind es leid zu hören, dass ein Film aus diesem Teil der Welt notwendigerweise den Status von Frauen oder Terrorismus, Religion oder Einwanderung thematisieren müsse. Unsere Gesellschaften haben noch viele andere Dinge zu besprechen. Meine Rolle besteht nicht darin, einem Publikum auf der anderen Seite des Mittelmeers zu zeigen, was es erwartet, sondern darin, es anderen Aspekten der Kultur, aus der ich komme, auszusetzen.

Titelbild: Der Dieb am Fuss des Mausoleums

Regie: Alaa Eddine Aljem, Produktion: 2019, Länge: 102 min, Verleih: trigon-film

Ab 5. September in den Kinos

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