Grâce à Dieu

Sexueller Missbrauch an Kindern: Wie die katholische Kirche deren Aufklärung behindert und einige mutige Männer dagegen ankämpfen. François Ozon erzählt im Doku-Spielfilm «Grâce à Dieu» eine erschütternde Geschichte.

Ob man gläubiger Christ ist oder Atheist: Der Schrei, der vom Film «Grâce à Dieu» ausgeht, sollte von möglichst vielen gehört werden. Denn dieser Fall ist wohl nur die Spitze eines grösseren Eisbergs. Ernst zu nehmen ist er auch, weil nur so die positive Entwicklung, die am Ende des Films angedeutet wird, weiter gehen kann.

Sie sind mutig, klug und kämpfen mit Energie für ihr Anliegen. Der beruflich erfolgreiche Familienvater Alexandre ist einer von ihnen. Per Zufall hat er entdeckt, dass der Priester, der ihn einst missbraucht hatte, nach wie vor im Amt ist. Doch was er auch unternimmt, um die Kirche zu veranlassen, den fehlbaren Priester seiner Ämter zu entheben: Er erreicht nichts. Erst als weitere Betroffene sich mit Alexandre zusammentun, das Tabu des Schweigens brechen und ihre Aktionen gemeinsam planen, beginnt sich das Blatt zu wenden.

Mit Leichtigkeit wechselt der französische Regisseur François Ozon die Genres und versteht es, immer wieder zu überraschen. Jetzt greift er erstmals eine aktuelle, wahre Begebenheit auf: den Fall des Priesters Preynat, der die Justiz und die Öffentlichkeit seit einiger Zeit beschäftigt. Ozon, der keineswegs die Kirche als Ganzes infrage stellt, fokussiert den Film auf die Betroffenen. «Grâce à Dieu» ist ein aufrührender, facettenreicher Film, ähnlich wie sein Melodrama «Frantz».

Alexandre mit seiner Frau Marie

Aus einem Interview mit François Ozon

Mit «Grâce à Dieu» greifen Sie zum ersten Mal ein aktuelles Thema auf.

Ursprünglich wollte ich einen Film über männliche Fragilität machen. Bisher hatte ich zahlreiche starke Frauenfiguren auf die Leinwand gebracht. Diesmal wollte ich den Fokus auf Männer legen, die sichtbar leiden und Emotionen zeigen, also Eigenschaften, die sonst eher dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden. Deshalb hatte ich als Titel zunächst an «Der weinende Mann» gedacht. In dieser Phase bin ich dann auf den aktuellen Fall Preynat gestossen. Auf der Website der Opfer, «La Parole Liberée» (Das gebrochene Schweigen), las ich Aussagen von Männern, die als Kinder und Jugendliche Missbrauchsopfer der katholischen Kirche waren. Besonders berührt hat mich Alexandre, ein streng gläubiger Katholik, der berichtet, wie er bis zum Alter von 40 Jahren schweigend mit sich gerungen hat, um dann endlich seine Geschichte erzählen zu können. Auf der Website fand ich Interviews, Artikel sowie die E-Mail-Korrespondenz zwischen ihm und hohen Amtsträgern der Kirche von Lyon, wie Kardinal Barbarin und Regine Maire, der Kirchenpsychologin, die für die Unterstützung der Opfer von Priestern zuständig ist. All diese Dokumente haben mich sehr bewegt, und ich habe Alexandre kontaktiert.

Wie lief das Treffen ab?

Er kam mit einem Ordner, in dem seine ganze Korrespondenz enthalten war, die er mit der Kirche geführt hat, bis zum Zeitpunkt der Klageeinreichung. Ich war sehr gerührt, dass er mir diese Briefe anvertraut hat. Wir hören viele Auszüge daraus als Voice-Over am Anfang des Films. Zunächst dachte ich daran, dieses unglaubliche Material für ein Theaterstück zu verwenden, dann kam mir die Idee einer Dokumentation. Ich habe Alexandre häufig getroffen und dabei ein wenig investigativen Journalismus betrieben. So traf ich auf andere Opfer, wie François, Pierre-Emmanuel sowie Personen aus ihrem näheren Umfeld, insbesondere ihre Ehefrauen, eine Mutter, Anwältinnen. Während der Gespräche habe ich nicht gefilmt, sondern ihnen lediglich zugehört und Notizen gemacht.

Alexandre, Pierre und Gilles

Warum haben Sie sich dafür entschieden, den Film als eine Art Staffellauf mit drei Figuren zu strukturieren?

Das ergab sich aus dem Ablauf der Ereignisse. Ich habe schnell gemerkt, dass die Geschichte von Alexandre ab einem gewissen Punkt endet, und der Film ohne ihn weitergehen muss. Aufgrund seiner Aussagen nimmt der Polizeichef die Ermittlungen auf und kontaktiert François, der den Verein «La Parole Liberée» gründet, durch den er auch Emmanuel trifft. Es ist wie ein Dominoeffekt. Der Film beginnt mit dem Kampf eines Einzelnen: Alexander gegen die Institution. Dann übergibt er den Stab an François, der einen Verein gründet. Und über diesen Verein gelangen wir zu einem neuen Opfer: Emmanuel.

Alexandre und François waren eine nahe liegende Wahl aufgrund ihrer aktiven Rolle in dem Fall, während Emmanuel eher «ein Opfer unter vielen» ist. Die Wahl der dritten Person war in der Tat schwieriger, es gab zu viele Opfer, unter denen ich wählen musste. Ich musste die dramaturgische Entwicklung vorantreiben. Schmerz und Gefühle mussten bei jeder Figur anders sein, damit ich die unterschiedlichen Auswirkungen der Affäre auf die Kirche und das Leben der Opfer in allen Facetten zum Ausdruck bringen konnte. Nach Alexandre und François – beide gut situiert, mit Frau, Kindern und Jobs – suchte ich eine dritte Figur, die sozial weniger integriert ist, bei der sich der Schmerz brutaler manifestiert und sowohl psychisch als auch physisch offensichtlich ist. Alexandre und François erzählten mir von Pierre-Emmanuel. Er stamme aus einem anderen sozialen Milieu und sei sehr sensibel und verletzlich. Also traf ich ihn – und war tief berührt. Als ich seine Figur entwickelte (umbenannt in Emmanuel), war ich auch inspiriert von den Berichten anderer Opfer, die schwer gelitten hatten. Mit der Figur Emmanuel wollte ich die unterschwellige Wut fühlbar machen. Er hat physisch gelitten. Im Film ist er Epileptiker, der echte Pierre-Emmanuel ist es nicht.

Die Herausforderung besteht darin, dass der Zuschauer an jeder Figur, die neu in die Handlung eingeführt wird, dranbleibt. Ihre Geschichten sind Variationen über dasselbe Thema, und ich hoffe, dass sie sich gegenseitig bereichern. Die Eröffnungssequenz zeigt den Kardinal auf der Terrasse der Basilika Notre Dame de Fourvière, wie er von hoch oben die Stadt Lyon betrachtet. Der Film musste fest in der Stadt Lyon verankert sein. Lyon war die erste Stätte des Christentums in Gallien und steht in der erzkatholischen Tradition der Kirche. Mit ihrer geografischen Lage auf einem Berg über Lyon ist sie auch eine visuelle Metapher für die Macht, die die Kirche auf die Stadt ausübt.

 Emmanuel und seine Mutter Irène

Die Idee war nicht, die Kirche zu verdammen, sondern ihre Widersprüche und die Komplexität der Geschehnisse aufzuzeigen. In einer Szene erklärt eine der Filmfiguren ihr Engagement in «La Parole Liberée» so: «Ich tue das für die Kirche, nicht gegen sie.» Alexandre respektiert die Institution und hält Barbarin für einen anständigen, mutigen Mann, der Pädophilie immer verurteilt hat und deshalb auch handeln wird. Er glaubt an den guten Willen von Barbarin und der Kirche. Wieso auch nicht? Einmal filme ich Barbarin beim Beten. Vielleicht bittet er Gott um Hilfe. Aber diese alternde Institution braucht Veränderungen, und das ist schwer zu bewerkstelligen. Sie ist gelähmt durch alte Gewohnheiten und Konservatismus, festgenagelt durch eine Kultur des Vertuschens und des Protektionismus, wodurch jedermann davon abgehalten wird, wirklich etwas zu bewegen. Und wenn wir einmal von seinem Verhalten gegenüber Kindern absehen, ist das Problem mit Preynat, dass er den Ruf eines guten Priesters hatte. Er war sowohl bei den Mitgliedern seiner Gemeinde als auch innerhalb der kirchlichen Hierarchie beliebt. Es drängt sich die Frage auf: Ist die abwartende Haltung der Kirche das Symptom einer veralteten und verkrusteten Institution, oder liegt der Grund tief verwurzelt in der Natur der katholischen Religion an sich, einer Religion der Vergebung? Barbarin sagt einmal, «es wird immer eine offene Tür für Sünder geben», stimmt aber gleichzeitig zu, dass Preynat bestraft werden muss. Seine Haltung ist doppeldeutig. Auf wessen Seite steht er wirklich? Das lässt Alexandre an seinem Glauben zweifeln, wie wir in der Schlussszene sehen, als sein Sohn ihn fragt: «Glaubst du immer noch an Gott?» Die richtige Frage müsste zwar lauten: «Glaubst du immer noch an die Institution der katholischen Kirche?»

Glauben Sie, dass dieser Film helfen kann, Dinge zu verändern?

Ich habe den Film einem Priester gezeigt, der sagte: «Dieser Film kann eine Chance für die Kirche sein. Wenn sie ihn sich zu eigen macht, kann sie endlich die Verantwortung für Pädophilie in ihren Reihen übernehmen und sich dem Problem ein für alle Mal stellen.» Wir wollen es hoffen.

Weitere Ausschnitte aus einer Diskussion mit François Ozon (Stand August 2019) PDF

Regie: François Ozon, Produktion: 2019, Länge: 137 min, Verleih: Filmcoopi

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