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Das zerrüttete Leben

Sehnsucht nach verlorener Liebe, Bitterkeit über den Verlust der Heimat, aber auch scharfsinnige Beobachtungen prägen ‹Ein Raubtier namens Mittelmeer›, ein Textband mit Prosa und Poesie des syrisch-palästinensischen Autors Ghayath Almadhoun.

Wer aus Syrien geflohen ist, wer Freunde und Verwandte in den Kriegswirren oder auf der Flucht nach Europa verloren hat, der kann nicht einfach logisch und rational berichten, was er erlebt hat. Sein Leben wurde durch das Erfahrene so zerrüttet wie ein kleines Boot, das auf dem Meer kentert und zerbricht.

Ghayath Almadhoun wurde 1979 in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Syrien geboren. In Damaskus studierte er arabische Literatur und schreibt seitdem Lyrik. Vier auf Arabisch verfasste Gedichtbände wurden bisher veröffentlicht. 2008 floh Ghayath Almadhoun nach Schweden, wo er heute noch lebt. Seit dieser Zeit produziert er auch Poetry-Filme. Die letzte seiner Gedichtsammlungen, Till Damaskus (2014), publizierte er gemeinsam mit der schwedischen Autorin Marie Silkeberg. Als Stimme der Flüchtlinge erhielt Ghayath Almadhoun viel Resonanz, seine Texte wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Ghayath Almadhoun 2016. Foto von Marie Silkeberg / commons.wikimedia.org

Doch wie kann ein Mensch, der seine Wurzeln verloren hat, schreiben, so dass man ihn versteht? Mit Dichtung hat sich Ghayath Almadhoun seit langem auseinandergesetzt. – Aber erleichtert es ihm das Schreiben? Es ist sein Anspruch, für die Opfer des Krieges, für die Flüchtenden, die Asylsuchenden, für die Verletzten und die Eingeschlossenen seine Stimme zu erheben.

Die Tradition arabischer Lyrik

In allen orientalischen Kulturen, im arabischen, persischen und türkischen Raum, wurde die Kunst der Lyrik sehr geschätzt. Es war eine Kunstform, die strengen Regeln folgte, aber unter anderem durch ihren Bilderreichtum grosse Freiheiten besass.

Wir können uns einen orientalischen Teppich vorstellen, dessen Muster vorgegeben sind, jedoch in jedem Exemplar individuell dargestellt werden. Oft wurden Gedichte in einer besonders kunstvollen Schrift niedergeschrieben. Kalligraphen waren wie Dichter sehr verehrt. Für gebildete Menschen – Frauen wie Männer – gehörte es dazu, berühmte Gedichte rezitieren zu können.

Ghayath Almadhouns Gedichte sind nur zum kleinsten Teil solche zur Rezitation geeigneten erbaulichen, tiefschürfenden oder heiteren Poesiestücke. Sie rütteln auf, benennen die Schrecken von Krieg und Flucht, von Trauer, Tod und Schmerz auf eine Weise, die uns Lesenden den Atem raubt. Seine Texte widerspiegeln das Chaos, in dem sich Kriegsopfer und Fliehende gleichermassen befinden. Wenn das Mittelmeer aufgewühlt ist, die Flüchtlingsboote zu zerbrechen drohen, dann fühlen sich die Menschen wie einem Raubtier ausgeliefert – hilflos und ohne Hoffnung.

Am Krieg zerbrechen die Verse

Die Texte dieses schmalen Bandes erschlossen sich der Schreibenden, als sie begriff, dass sich die Menschen im Krieg oder auf der Flucht wie auf einem Boot fühlen, das Schiffbruch erleidet. Alles geht drunter und drüber, an nichts kann man sich festhalten, Sterben oder Überleben ist eine Sache des Zufalls.

Um ein solches Chaos abzubilden, müssen eben die Verse oder Textstücke gleichfalls das Durcheinander, die Orientierungslosigkeit und Verzweiflung darstellen. Da vermischt sich die Erinnerung an die verlorene Liebe mit dem salzigen Meereswasser, das den Durst des Schiffbrüchigen nicht löscht, zwischen den Wellen taucht die Ausländerbehörde auf und mit ihr die Angst vor der Ablehnung des Asylantrags. Da erscheinen Bilder, die aus der hohen arabischen Literatur zu stammen scheinen, da zitiert der Autor Paul Celans berühmtes Gedicht Todesfuge über die NS-Judenvernichtung.

Suche nach Halt im Exil

Almadhoun stellt auch ganz konkrete Bezüge her, er schreibt, 2015 habe er zwei Wochen in der belgischen Stadt Ypern verbracht, als dort eine Gedenkfeier zum 100. Jahrestag des ersten Chemiewaffenangriffs stattfand. – In Syrien wurden damals wiederum Menschen durch Chemiebomben getötet. Dem Autor erscheint dies schizophren. Immer wieder pendeln die Gedanken und Gefühle des Autors zwischen dem dunklen, geordneten Stockholm und seinem geliebten heissen Damaskus, wohin es ihn auch nach zehn Jahren Exil noch zieht. Dazwischen schreibt er über seine doppelt verlorenen Wurzeln, als Sohn 1948 aus Israel vertriebener Palästinenser in einem Flüchtlingslager auf syrischem Boden aufgewachsen, erlebt er Heimatlosigkeit seit seiner Geburt.

Die Texte sind nach Jahren geordnet, zum Teil in freien Versen, sonst ist es – zumindest in der Übersetzung – Prosa in drängendem Rhythmus voller Bilder wie Meereswogen voller Assoziationen, die die Lesenden überrollen. Die Jahre in Europa haben ihn begreifen lassen, wie dieser kühle Kontinent das letzte Jahrhundert erlebt hat. Mit verständlicher Bitterkeit erkennt er auch die Unfähigkeit all der Organisationen, die für Flüchtlinge, Gerechtigkeit, Freiheit eintreten, die harten Strukturen aufzubrechen. Vielleicht befürchtet Ghayath Almadhoun, dass sein Aufschrei, der dieses schmale Buch füllt, gar nicht laut genug sein kann, um genug Aufmerksamkeit auf das Los der Vertriebenen und Geflohenen zu lenken.

Zur Zeit verbringt der Autor ein Studienjahr in Berlin als Künstler in Residenz, eingeladen vom Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD).

Ghayath Almadhoun: Ein Raubtier namens Mittelmeer. Gedichte. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Arche Literatur Verlag 2018. 128 Seiten. ISBN: 978-3716027684

Dieses Buch ist in der Reihe «Der Andere Literaturclub» erschienen, einem Projekt von artlink, Büro für Kulturkooperation, das mit litprom verbunden ist. Ziel von artlink ist es, Kunstformen, Künstler und Künstlerinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa bekannt zu machen sowie die Arbeit der in die Schweiz eingewanderten Kulturschaffenden zu unterstützen. Dies als Ausdruck einer der Welt gegenüber offenen Schweiz, die in der interkulturellen Zusammenarbeit eine Chance wahrnimmt, eurozentristische Haltungen zu relativieren, den Respekt vor anderen Formen, Traditionen und Wertesystemen zu fördern und die Welt auch aus anderen Blickwinkeln zu betrachten.

Titelbild: Während der von Frontex geführten Operation Triton im südlichen Mittelmeer rettet das irische Flaggschiff LÉ Eithne zahlreiche Flüchtlinge. (15. Juni 2015) / commons.wikimedia.org

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