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Tadeusz Kantor – Theatertier

Die performativen und offenen Theaterformen, die unsere Bühnenlandschaft heutzutage prägen und voranbringen, hat der polnische Regisseur und Universalkünstler Tadeusz Kantor schon vor einem halben Jahrhundert erfunden. Das Museum Tinguely zeigt seine Arbeit Où sont les neiges d’antan in all ihren Facetten.

Schnee von gestern ist die Theaterperformance über François Villons Satz Où sont les neiges d’antan keinesfalls (Villon war einer der Poètes maudits des Spätmittelalters). Der Tod als prägendes Element stand im Zentrum von Kantors letzter Schaffensperiode. In der Ausstellung in enger Nachbarschaft mit Jean Tinguelys Installation Mengele-Totentanz von 1986 ist auf grossem Screen ein Film der Hauptprobe in Krakau am Vorabend der polnischen Premiere 1984 zu sehen. Er könnte ebensogut heute gedreht worden sein: Die Geschichte ist gültig, auch wenn Kantor von der Auslöschung eines Schtetl im nazibesetzten Polen der 40er Jahre ausgegangen war. Wo aber werden nicht immer wieder auf der Welt Menschengemeinschaften im Dienste einer Ideologie oder auch ganz plump der Machtgier kaputt gemacht?

Filmstill aus: Andrzej Sapija, «Où sont les neiges d’antan». Paris 1984 © WFO

Die kompakte Ausstellung umfasst neben dem Film Fotoserien von früheren Aufführungen, unter anderem eine Serie Schwarzweiss-Fotos von Romano Martini von der Urversion 1979 in Rom, oder acht Farbaufnahmen, welche Caroline Rose 1982 in Paris fotografiert hatte. Plakate – jeweils an den Spielort angepasst – Zeichnungen und Skizzen erweitern diesen Kosmos, in dessen Zentrum eine Installation mit den Kostümen und Requisiten steht, die für das Stück verwendet werden müssen: Die nicht blütenweissen, aber hellen Anzüge der Dorfbewohner, die beiden roten Kardinalsmäntel mit der Mitra, das Kostüm der zwei Rabbiner, welche die Posaune mit ihrer Endzeitfanfare bedienen, der Braut, die am Ende tot vom Regisseur selbst weggeschafft wird, des Bräutigams und das Skelett, welches die schneeweisse Bahn festhält.

Tadeusz Kantor Pastellzeichnung der Posaune des Jüngsten Gerichts. 1979. Privatsammlung. © Maria Kantor & Dorota Krakowska/Tadeusz Kantor Foundation

Davor stehen Kessel, mit denen der Brand – evoziert durch Mordechai Gebirtigs Hymne des jüdischen Gettos – gelöscht werden soll – Erinnerung an Pogrome und die beiden Weltkriege. Kantor benutzte Alltagsgegenstände, Gebrauchtwaren, Abfall, alte Kleider für seine Bühnenbilder, Kostüme und Requisiten, in diesem Stück auch meterweise von dem weissen, plastifizierten Papier, welches ihm einst zugefallen war.

Einer von Kantors früheren Schauspielern, Bogdan Renczyński, war als Mitkurator vom Dokumentationszentrum für die Kunst von Tadeusz Kantor CRICOTEKA in Krakau angereist und brachte Kantors Arbeitsweise mit einem kleinen Beispiel auf den Punkt: «Wir spielten Untergang der Titanic. Ich war das Schiff und er der Eisberg.» Als Frischling der Schauspielkunst war die performative Arbeitsweise ohne Textbuch für ihn faszinierende Avantgarde: es ging nicht um Rollen, sondern um Charaktere, die Kantor auf der Bühne unter seiner aktiven und immer sichtbaren Leitung agieren liess. Damit wurde das Theater als Illusion verabschiedet und die Bühne zur Realität geöffnet, auch zum Publikum, das von Kantor öfters beigezogen wurde.

Tadeusz Kantor (links) bei einer Aufführung von Où sont les neiges d’antan. Paris 1982. Cricoteca © Maria Kantor & Dorota Krakowska/Tadeusz Kantor Foundation

Tadeusz Kantor (1915 – 1990), katholische Mutter, jüdischer Vater, wuchs in einem galizischen Schtetl auf. Krakau war ihm Lebens- und Schaffensmittelpunkt, wenn er auch mit seinen Arbeiten häufig westlich des eisernen Vorhangs tourte, im damaligen Ostblock ausserhalb Polens jedoch nie erwünscht war.

Daniel Simpson: Tadeusz Kantor im Cricot 2 Zentrum in Krakau, 1987. © 2019 Centre of the Dokumentation of the Art of Tadeusz Kantor CRICOTECA

Jean Tinguely und Tadeusz Kantor waren sich 1960 bei einem Kunstsammler begegnet. Auch wenn beide sich für prozessuale Kunst engagierten, und die Grenzen zwischen Kunst und Alltag niederbrechen wollten, waren sie möglicherweise zwar Seelenverwandte bei der Aufarbeitung gesellschaftlicher Ereignisse, aber in ihren künstlerischen Zielen letztlich einander fern: Tinguely bewegte sich in der Gruppe der Nouveaux Réalistes, Kantors Objekte sind magische Akteure in seinen Performances. Der Dialog zwischen dem Mengele-Totentanz und der Ausstellung über Tadeusz Kantor gleich daneben über ihre Auseinandersetzung mit dem Tod und den Massenmorden ihrer (und unserer) Zeit ist weit mehr als ein kuratorischer Einfall.

Blick in die Ausstellung. © 2019 Museum Tinguely, Basel. Foto: Nicolas Lieber

Die Zusammenarbeit der Cricoteka in Krakau mit dem Museum Tinguely ist ein – wichtiger – Anlass des Festivals Culturescapes, welches diesmal der Kulturlandschaft Polen gewidmet ist. In der halben Schweiz, vor allem aber in der Region Basel finden zahlreiche Anlässe statt, die das reiche und starke kulturelle Leben des politisch mit Skepsis betrachteten Lands zeigen.

Auriea Harvey & Micheël Samyn, Cricoterie. 2019 (Virtual Reality Programm) © Courtesy of the artists. Foto: Karolina Zajączkowska

Heute würde Kantor möglicherweise mit Virtual Reality arbeiten. Ein Künstlerduo, welches sich damit auseinandersetzt, hat sich bei einem Aufenthalt in Kantors Sommerhaus von seinen Figuren und Objekten und vor allem wohl von seinem Geist inspirieren lassen und ein komplexes virtuelles Kantor-Theater programmiert, welches durch Sie oder mich auch gesteuert werden kann. Das war für mich die Gelegenheit, mich mit Hilfe in diese künstliche Welt zu trauen:

Zunächst galt es, einen riesigen Kasten zu öffnen, in dem ein Objekt, eine Kiste, eine Figur oder eine Puppe standen. Schon das forderte mich heraus, und die erste gigantische schwarze Gestalt, vor der ich mich fast fürchtete, fiel aber in eine Ecke und verschwand gleich wieder, während ich eine Frauenpuppe immerhin hochheben konnte, bevor auch sie ausser Kontrolle geriet, was das Publikum mitbekommt, wenn auch ohne den Stress, den ich habe. Fazit: mehr üben.

Auriea Harvey & Michaël Samyn, Cricoterie, 2019. Virtual Reality Program. So kann das Chaos aussehen, das man herbeiführen kann. © © Courtesy of the artists.

In Anlehnung an Kantors Cricoteka nennen Auriea Harvey und Michaël Samyn ihre Virtual Realitiy Animation Cricoterie. Die Grenzen zwischen Kunst und Realität verwischen ist nach wie vor spannend, für jene, die beobachten, viel mehr jedoch für jene, die es erfunden, ertüftelt, ersonnen haben.

Beitragsbild: Zeichnung von Tadeusz Kantor. Foto: E. Caflisch
bis 5. Januar 2020
Die Ausstellung ist in Zusammenarbeit mit dem Festival Culturescape Polen 2019 entstanden.
Hier finden Sie Informationen zur Ausstellung im Museum Tinguely.

 

 

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