Die Beziehung des Menschen zur Natur, Thema der Wissenschaft und auch der Politik, änderte sich seit Urzeiten immer wieder. Es ist auch ein Thema in der Kunst, wie eine Auswahl der Sammlung des Kunstmuseums Bern zeigt.
Der Titel klingt vorerst ein wenig rätselhaft. Alles zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton. Es ist die erste Ausstellung der Kuratorin Marta Dziewańska, sie ist seit 2019 neu am Kunstmuseum Bern. Sie durchforscht die Sammlung des Museums nach Zeugnissen der bildenden Kunst über den Wandel des Welt- und Menschenbildes seit dem Ende des 19. und dem angehenden 20. Jahrhundert.
Drei narzisstische Kränkungen des Menschen
Sigmund Freud dokumentierte diese in seiner Schrift von 1917. Der Zerfall des geozentrischen Weltbilds war die erste, Darwins Evolutionstheorie die zweite und die Entdeckung des Unbewussten wenige Jahrzehnte vor Freuds Schrift die dritte. Fortan gilt der Mensch weder als Mittelpunkt des Universums, noch als gottähnlicher Herrscher über die Natur und nicht einmal als Herr über sein eigenes Bewusstsein. Auch in der Kunst schlägt sich die damit verbundene Unsicherheit des Menschen, die Entzauberung seiner Welt nieder. Andererseits wächst auch die Sehnsucht nach dem Sagenhaften, dem Magischen, den Symbolen und Objekten des verunsicherten Ichs. Neu hinzu kommt heutzutage die häufig auftretende Verunsicherung angesichts der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Projekte.
Marta Dziewańska, unterstützt von Co-Kurator Etienne Wismer, findet die Beispiele aus dem Fundus der Werke zwischen Arnold Böcklin (1827-1901) und Felix Vallotton (1865-1925). Doch diese Namen geben nicht nur die ungefähren zeitlichen, sondern auch die auf den Bekanntheitsgrad der Künstler und ihrer Werke bezogenen Grenzen der gezeigten Periode wieder. Nebst bekannten (Hodler, Klee, Amiet) findet man unter den Bildern in den 12 Teilen der Ausstellung auch einige nur profunden Kennern geläufige Namen wie Clara von Rappard (1857-1912), Gabriel Loppé (1825-1913) Annie Stebler-Hopf (1861-1918), Franz Buchser (1828-1890).
Franz Buchser: Flutumfangen (1876). Öl auf Leinwand 69,2 x 102,1 cm. Kunstmuseum Bern, Bernische Kunstgesellschaft.
Die 12 Ausstellungsteile einzeln zu kommentieren würde den Rahmen dieses Berichtes sprengen. Wenn man nicht an einer Führung teilnehmen will, empfiehlt sich das Studium der Ausstellungsbroschüre. Sie lässt sich auf der Webseite der Ausstellung als PDF herunterladen. Sie enthält die ausführlichen Hintergrundinformationen zum Verständnis der Voraussetzungen für die Konzeption der Schau und die Auswahl der Werke. Die Autorin Marta Dziewańska weckt das Mitschwingen einer Stimmung, die über das Sachliche hinaus von einem Engagement zeugt, das nicht nur von Wissen und Professionalität bestimmt ist. Sie besitzt die nicht durchwegs verbreitete Fähigkeit, in die Fakten hinein und hinter sie zu sehen. Sie erkennt Zusammenhänge, Verknüpfungen, Metaphern, Symbole und Strukturen. Deren Umsetzung im Konzept der Ausstellung zeugt einerseits von einer Konzentration auf das Wesentliche, welche andererseits auch das Mitgemeinte, die Perspektiven und unbewussten Räume, einschliesst.
Der Mensch gegen die Natur oder mit dieser im Einklang
Gabriel Loppé: Das Matterhorn, 1867. Öl auf Leinwand, 79,5 x 63,5 cm. Kunstmuseum Bern, Geschenk Hanna Bohnenblust, Bern.
Bezeichnend für die künstlerische Darstellung der Bedeutungslosigkeit des Menschen ist dieses Matterhorn-Bild des Malers und Alpinisten Gabriel Loppé. Schroff und zackig abweisend präsentiert sich die Natur, und wenn man nicht darum weiss, wird man die beiden kleinen Menschlein vielleicht gar nicht entdecken. Andererseits zeigen Bilder wie Flutumfangen von Franz Buchser oder auch das berühmte Selbstbildnis (Der Zornige), 1881, von Ferdinand Hodler die trotzige Auseinandersetzung des Menschen mit einer zur Bedrohung gewordenen Natur.
Spannend sind die Teile der Ausstellung, die sich mit dem Thema Zerfall und Fall, und das auch in verschiedenen semantischen Verknüpfungen der Begriffe, befassen.
Ferdinand Hodler: Absturz IV, 1894. Öl auf Leinwand, 210 x 180 cm. Alpines Museum der Schweiz, Depositum Schweizer Alpen-Club SAC.
Gleich beim Betreten des Raums überrascht die von Ferdinand Hodler selbst zerschnittene Riesendarstellung Aufstieg und Absturz (siehe Absturz IV). Was für eine atemberaubende Darstellung der Bedrohung des Menschen durch die Natur und seines trotzdem nie abreissenden Bestrebens, deren Hindernisse zu bezwingen! Kein Wunder mahnt diese Szenerie an die letzte Strophe von Hyperions Schicksalslied (Hölderlin).
Ein ganzer Raum ist Adolf Wölfli (1864-1930) gewidmet, dem unglücklichen Kreativen, der seine Welt niemals mit der Welt der Alltäglichen in Übereinstimmung zu bringen vermochte und mit einer überreichen, geheimnisvoll und rätselhaft wirkenden Fantasie sein Inneres mit dem realen Äusseren seiner Welt gestaltend verknüpfte. «Unglücksfall» ist hier das Stichwort, und es regt an zu vielseitigem Nachdenken. Da verbindet sich das eigene mit dem öffentlichen Leben zu einem Ganzen – die Grenze dazwischen verschwimmt. Eine erfundene Lebensgeschichte, gleichzeitig die Amplifikation des Begriffs Unglücksfall.
Annie Stebler-Hopf, Entre nous (Familienbild), 1904. Öl auf Leinwand, 49 x 70,5 cm.
Kunstmuseum Bern, Schenkung Sylvia Y. Stebler
Das sind nur einzelne der zahlreichen Aspekte zum anvisierten Thema. Es hat auch der Mensch in seinem Heim, mit seiner Familie Platz.
Felix Vallotton, 1914, paysage de ruines et d’incendies, 1915. Öl auf Leinwand, 115 x 147 cm. Kunstmuseum Bern, Schenkung der Stiftung Gemäldesammlung Emil Bretschger, 1983.
Gezeigt wird auch, wie der Mensch aus der Landschaft verschwindet, sich ihr entfremdet Das Idyllische der Natur und des Verhältnisses Mensch-Tier findet in Darstellungen wie im Beitragsbild (Annie Stebler-Hopf, Märjelensee, o. J. Öl auf Leinwand, 111 x 180 cm. Kunstmuseum Bern, Schenkung Sylvia Y. Stebler). Weitere Themen sind die künstlichen Paradiese, welche die Stabilität untergraben. Drogen, Medikamente – Genuss, Berauschung, Bewusstseinserweiterungen… Andererseits wiederum, im Abschnitt Heimgesuchte Häuser, Innenräume mit Beklemmung, Enge, Gewalt, rau und kalt… Oder, im Abschnitt Schwindel, die Stadt als Sumpf (Referenz: «Entartung», Max Nordau 1892).
Die Ausstellung dauert bis 20. September 2020.