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Unterwegs mit Zwingli

Spannende Geschichten aus der Zeit Zwinglis erzählt uns die Stadtführerin und Autorin Barbara Hutzl-Ronge in ihrem neuen Buch «Zürich. Spaziergänge durch 500 Jahre überraschende Stadtgeschichten» mit poetischen Fotografien von Martina Issler.

Als zugelaufene katholische Österreicherin fühlte sich Barbara Hutzl-Ronge nicht berufen, über die Reformation zu erzählen, gestand sie in einem Interview im Tages-Anzeiger. Bislang hatte sie die vorchristliche Geschichte fasziniert, wie ihre Bücher «Magisches Zürich» oder «Magischer Bodensee» zeigen. Zwingli war ihr zu modern. Doch im Vorfeld des Reformationsjubiläums wurde sie wiederholt darauf angesprochen, auch Führungen über Zwingli zu gestalten.

Barbara Hutzl-Ronge vor dem Grossmünster mit der Statue von Heinrich Bullinger © Foto: Christian Schwitter.

Und wenn eine so begnadete Erzählerin wir Barbara Hutzl-Ronge sich mit Zwingli befasst, recherchiert sie die Fakten sorgfältig und gewissenhaft und verpackt sie in lebendige und lebensnahe Geschichten, die sie nicht nur auf ihren Stadtführungen erzählt, sondern auch in ihrem Buch.

Mit diesem Stadtführer unter dem Arm kann man geschichtsträchtige Orte und Sehenswürdigkeiten in elf Rundgängen planen und entdecken: lauschige Gassen, stattliche Bürgerhäuser, verträumte Innenhöfe, vielfältige reformierte Kirchen und verschwundene Klöster. Es ist kein Rennen und Hetzen, sondern ein Flanieren und Spazieren, wie Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster, in der Einleitung treffend meint.

Ein Stadtführer wie ein Krimi

Den Stadtführer kann man aber auch ganz gemütlich zu Hause lesen, denn es sind keine trockenen Kommentare zu Sehenswürdigkeiten, sondern spannende und auch vergnügliche Geschichten. Sie erzählen vom Leben und Wirken des Reformators in seiner Zeit sowie den Auswirkungen bis heute. Es ist erstaunlich, wie Zwingli in wenigen Jahren das katholische Zürich und sein Umland überzeugen und reformieren konnte. Das hat auch der Film über Zwingli zum fünfhundertjährigen Jubiläum der Reformation gezeigt. Aber in diesem Buch erfahren wir detailliert historische Hintergründe und Zusammenhänge, die ein Film so nicht zeigen kann. Die Leserin und der Leser kann selber im Geist das Leben von damals nachvollziehen und es mit eigenen Erfahrungen in Verbindung bringen.

Jedes der elf Kapitel ist einem Themenbereich gewidmet. Zur Planung eines Spaziergangs ist eine Karte vorangestellt. Die Autorin folgt ausgewählten Punkten und erläutert sie wie bei ihren Stadtführungen, die man über ihre Webseite buchen kann. Alle Kapitel und Unterkapitel haben anschauliche Überschriften und führen einen mitten ins Geschehen.

Das erste Kapitel «Zwölf Jahre, in denen es um die Wurst ging» behandelt die eigentliche Reformation in Zürich. Dabei machen uns nicht nur das legendäre Wurstessen, sondern auch weitere bildhaft übertitelte Abschnitte – wie «Pfarrer im Glarnerland und die Nase tief in griechischen Büchern» oder «Die Bergtour der Humanisten auf den verfluchten Pilatus» – neugierig. Barbara Hutzl-Ronge schafft es, in jedem noch so kurzen oder langen Abschnitt den Drive wie in einem Krimi aufrechtzuerhalten, so dass man immer weiterlesen möchte. Auch hier gibt es Dramatik und Tote, nur waren es Menschen, die wirklich gelebt haben und für ihre Überzeugung gestorben sind, Märtyrer ihrer Zeit.

Magere klösterliche Ausbeute

In weiteren Kapiteln geht die Autorin auf die Schattenseiten der Reformation ein, wie die Folgen der Aufhebung der Klöster. Durch deren vermeintlichen Reichtum hoffte Zwingli, die Armenkasse der Stadt zu füllen, was dann schliesslich eine Enttäuschung war. Die Klöster waren nicht mehr so reich und die entlassenen Mönche mussten ein Handwerk erlernen oder die Stadt verlassen, die Nonnen konnten heiraten oder wurden unterstützt. Auch die radikalen Täufer, denen Zwinglis Reformation zu wenig weit ging, waren eine Herausforderung.

Mutige Frauen in der Reformationszeit

Verschiedene Kapitel behandeln das Leben von Frauen, wie das von der mutigen und selbstbestimmten Anna Reinhart Zwingli, der Frau des Reformators; von Katharina von Zimmern, die als Fürstäbtissin zur Bürgerin wurde und deren weise Entscheidung einen Bürgerkrieg verhinderte; von der Nonne Anna Adlischwyler aus dem Oetenbach Kloster, die von Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger einen ausführlichen schriftlichen Heiratsantrag erhielt und ihn auch annahm; aber auch vom Schicksal der Frauen aus dem Kloster St. Verena. Nebst den Geschichten weist der Stadtführer auf Orte hin, wo die betreffenden Personen gelebt haben, verrät auch solche, die von aussen nicht sichtbar sind und ermutigt, Türen zu öffnen und versteckte Hinterhöfe zu entdecken.

Glaubensflüchtlinge bringen Wohlstand

Weitere Kapitel berichten von den Locarner Glaubensflüchtlingen, die in Zürich aufgenommen wurden. Sie brachten neue Techniken wie die Samtweberei mit und eröffneten 1566 die erste Seidenfabrik. Damit trugen sie dazu bei, dass die engen Zunftvorschriften erweitert wurden und neue Berufszweige entstanden. Auch die Ankunft der französischen Glaubensflüchtlinge, die Hugenotten, brachten wichtige wirtschaftliche und kulturelle Neuerungen in die Stadt. Für ihre in Französisch gehaltenen Gottesdienste hatten sie Gastrecht im Fraumünster. 1902 konnten sie ihre eigene Kirche, die Eglise française, auf der Hohen Promenade bauen. Die Waldenser, Bergbauern aus dem Piemont, kamen um 1687 in Zürich an und halfen beim Bau der neuen Stadtmauer, einer sternförmigen Schanze. Im Kapitel zur Besichtigung des Schanzengrabens erfahren wir viel über diese wenig bekannte Flüchtlingsgruppe und ihr abenteuerliches Leben.

Die letzten zwei Kapitel widmet die Autorin der Entstehung der Universität sowie der ETH mit dem Gedanken im Hintergrund, wie die alten Klöster zu modernen Bildungstempeln wurden. Die Universität Zürich als Vorreiterin für das Frauenstudium ermöglichte den Frauen ab 1867 ein reguläres Studium, auch in Theologie. So gedenkt die Autorin im Schlusskapitel der Theologinnen, welche die Kanzeln begeistert und eigenwillig eroberten.

Das Buch geht mit seinen fast 400 Seiten und einem Gewicht von 900 Gramm über einen konventionellen Stadtführer hinaus. Trotz des Gewichts, – die sorgfältig recherchierten historischen Begebenheiten sind mit leichter Hand geschrieben und ergänzt von stimmungsvollen Fotografien der Stadtzürcher Fotografin und Architektin Martina Issler.

Auch wenn man Zürich gut zu kennen glaubt, erfährt man Neues und bekommt Lust, sich noch bewusster auf den Weg zu machen, einzelne Orte herauszupicken und diese mit neuem Wissen zu besuchen, sich dabei in die Zeit zurückzuversetzen und vorzustellen, wie das Leben früher war.

Barbara Hutzl-Ronge, Zürich. Spaziergänge durch 500 Jahre überraschende Stadtgeschichte, Fotografien von Martina Issler, 392 Seiten, 11 Karten, gebunden, AT Verlag Aarau 2019, Richtpreis CHF 39.90, ISBN 978-3-03902-042-3

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