Der helle Raum im Erdgeschoss der Bibliothek in Richterswil ZH verbreitet eine angenehme Atmosphäre. Auf dem langen Holztisch stehen Kaffeetassen, Rahm und Zucker schon bereit. Die ersten Teilnehmerinnen treffen ein, eine Frau hat für das Erzählcafé, das heute unter dem Thema ‹Peinlich, peinlich› steht, selbst gebackene Mandelgipfel mitgebracht.
«Da keine Anmeldung erforderlich ist, wissen wir nie, wie viele Menschen kommen werden», erklärt Gabriela Giger, die als Altersbeauftragte der Gemeinde seit vielen Jahren auch das Erzählcafé in Richterswil leitet. «Mit grosser Begeisterung», wie sie betont, «denn jeder Nachmittag ist einzigartig mit seinen vielen Geschichten, die sich aus den Erinnerungen der Teilnehmenden speisen, manchmal tiefe Betroffenheit auslösen, Mitleid mitunter auch, selbst dann, wenn die Episode schon Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückliegt, aber die Person, die sie erzählt, aufs Neue bedrückt.»
Das heutige Thema löst unter den zwölf Teilnehmenden, überwiegend Frauen, jedoch eher Heiterkeit aus. Eine Mutter erzählt eine Episode, als ihre beiden Kinder noch recht klein waren. Schauplatz ist ein Supermarkt. Das grössere Kind wieselt zwischen den Regalen herum, das kleinere sitzt im Einkaufswagen, der schon recht gut gefüllt ist. Die Mutter will gerade noch etwas dazulegen, als sich das Kind im Sitzchen nach ihr umdreht, hustet, noch mehr hustet – und sich dann in hohem Bogen übergeben muss. Nicht etwa auf den Boden, sondern direkt in den Einkaufswagen.
Ansteckende Heiterkeit
«Da fällt mir gerade auch etwas ein, das mir ungeheuer peinlich war», schliesst sich eine andere Frau an. «Ich war eine junge Sekretärin, unterbreitete meinem Chef meinen ersten Brief zur Unterschrift. Er überflog ihn, gab ihn mir mit ein paar abschätzigen Worten zurück. Es hatte einen Tippfehler darin.» Sogar an den genauen Wortlaut der Rüge kann sie sich erinnern, obwohl seither Jahrzehnte vergangen waren. Heute kann die Erzählerin darüber lachen. Überhaupt herrscht an diesem Nachmittag eine ansteckende Heiterkeit, die man bei diesem Thema nicht unbedingt erwarten konnte.
Ansteckende Heiterkeit in der Erzählrunde. Foto; © Vreni Bolt
Vielleicht liegt es daran, dass sich die Menschen, die sich hier zum Erzählen einfinden, schon seit langem kennen und vermutlich gerade deshalb voller Spannung und Interesse den Geschichten zuhören, die wiederum ihre eigenen Erinnerungen zu dem Thema wecken. Auch Gabriela Gigers einfühlsame Moderation ermöglicht es den Menschen sich zu öffnen und manchmal ganz Privates zu erzählen. Dass davon nichts nach aussen geht, ist für alle eine Selbstverständlichkeit.
Netzwerk
Was vor Jahren in der Altersarbeit, vorwiegend in Altersheimen, begann, hat inzwischen eine grosse Verbreitung auch in andere Altersgruppen hinein gefunden, so dass sich ein Zusammenschluss der Anbieter unter einem gemeinsamen Portal empfahl. Entstanden ist in der Folge das ’netzwerk-erzaehlcafe.ch›. Alle Veranstaltungen stehen jeweils unter einem vorgegebenen Thema, werden moderiert und legen den Fokus auf autobiografische Erlebnisse. In der Regel können die Zusammenkünfte ohne Voranmeldung besucht werden und sind kostenfrei. Und weil es eben Erzählcafés sind, wird immer auch Kaffee oder Tee aufgetragen.
Und wie ging die Geschichte in dem Supermarkt aus? Nachdem sich die Peinlichkeit etwas gelegt hatte, sich die anderen Kundinnen leicht indigniert ihren weiteren Einkäufen zu widmen begannen, kam eine Verkäuferin auf die Mutter zu: «Am besten ist es wohl, sie lassen den Wagen einfach so stehen und nehmen das kranke Kind zu sich. Ich kümmere mich um den Rest.» Besser hätte das Problem nicht gelöst werden können, darüber waren sich alle in der Runde einig.
Für weitere Informationen: netzwerk-erzaehlcafe.ch