Historisch und doch äusserst aktuell: Unter dem Titel «Lebe besser! Auf der Suche nach dem idealen Leben» zeigt das Bernische Historische Museum, wie lebendig die vor mehr als hundert Jahren entstandene Lebensreformbewegung heute noch ist.
Grundlage dieser Schau sind Ergebnisse einer vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsarbeit der Universität Fribourg. «Unsere Forschungen zeigen, dass der Schweiz eine sehr wichtige Rolle in der transnationalen Lebensreformbewegung zukommt», stellt Damir Skenderovic fest, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg und Leiter des Projekts. In den lebensreformerischen Ideen und Praktiken liessen sich zudem auffallende Kontinuitäten im 20. Jahrhundert erkennen.
Am Beispiel der Forderung nach vegetarischer oder sogar veganer Ernährung lässt sich die Entwicklung der Lebensreformerbewegung gut aufzeigen: Heutzutage gehört sie bei Klimaschützerinnen zum Credo, vor vierzig Jahren wurden Vegetarier und Vegetarierinnen für seltene Aussenseiter gehalten, obwohl gerade im Zuge der 68er-Bewegung auch die Konventionen der bürgerlichen Fleischgerichte ins Wanken gerieten. Aber Makrobiotik – erinnern Sie sich daran? – verschwand schnell wieder. Immerhin konnten sich biologisches Obst und Gemüse im Laufe des 20. Jahrhunderts immer besser behaupten, wenn auch lange nur in Reformhäusern. – Da ist er wieder, der Begriff: «Reform» – er verweist auf den ideellen Zusammenhang mit den Lebensreformern.
Was heute vegan ist, war früher Reformkost
Den Lebensreformern ging es um eine Umwandlung der Lebensgewohnheiten. Obwohl vieles aus der Erkenntnis entstand, dass die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts Körper und Nerven der Fabrikarbeiter ruinierte, waren die Lebensreformer vor allem in der Klasse des gebildeten Bürgertums zu finden. Einer ihrer Grundsätze hiess «zurück zur Natur»; man war sich wohl bewusst, dass man damit eine Idee Rousseaus wiederaufnahm. Dazu gehörte gesunde Kost aus frischen Naturprodukten, am besten ohne industrielle Fertigung. Daraus entstanden die Reformhäuser, die auch heute noch eine beachtliche Nische ausfüllen. Gepflegt wurde diese Ernährung auch von den Anthroposophen, die in Arlesheim seit damals ihr Zentrum haben.
Von Bio-Strath bis DAR-VIDA: Bereits um 1900 eröffneten in der Schweiz die ersten Reformläden. © Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto: Christine Moor
In diesen Rahmen gehört selbstverständlich auch Max Bircher-Benner, der Schöpfer des Birchermüeslis, allerdings hatte er nichts mit den Anhängern des Anthroposophen Rudolph Steiner zu tun. Der Arzt Bircher-Benner sah sich als Ernährungswissenschaftler und wollte die Menschen auf der Basis seiner Ernährung und einer vernünftigen Lebensreform von ihren Zivilisationsbeschwerden heilen. In begüterten Kreisen war ein Aufenthalt in der Zürcher Bircher-Benner-Klinik beliebt. Max Bircher liess sich jedoch auch vor den nationalsozialistischen Karren spannen. Diese Verbindungen schmälerten seinen Ruf beträchtlich.
Halte dich gesund! In der Naturheilanstalt von Max Bircher-Benner am Zürichberg erhalten die Gäste feuchte Wickel, um den Körper zu entgiften. © Archiv für Medizingeschichte, Zürich
Zu all diesen Ereignissen zeigt die Ausstellung aufschlussreiche Zeugnisse. Allerdings mussten sich die Kuratoren auf wenige Dokumente beschränken, damit die Übersicht nicht verloren geht. Das hat die Folge, dass viele Hintergrundinformationen untergehen bzw. die Wurzeln des dahinterstehenden Gedankenguts nur schwer sichtbar werden.
Yoga ist nicht nur «Selbstoptimierung»
So sehen wir zum Beispiel im Kapitel Körperkult, wie eine Gruppe nackter Menschen auf dem Monte Verità oberhalb von Ascona Gymnastik macht oder – ebenfalls nackt – dem Vortrag eines ihrer Meister lauscht. Wir werden auch eingeladen, eine Yogaübung zu machen. Dass Yoga und damit das riesige Thema der alten indischen Überlieferungen auf diese Weise nur als Mittel zur modischen Selbstoptimierung dargestellt wird, ist bedauerlich.
Das Thema Erziehung kann in einem solchen Rahmen gleichfalls nur punktuell skizziert werden. Dabei gehört ein Pädagoge wie Alexander Neill mit Summerhill zu den Pionieren moderner Erziehung, ebenso wie die Montessori-Kindergärten und die Rudolph-Steiner-Schulen. Die antiautoritäre Erziehung mit ihren Kinderläden war eine Episode in dieser Entwicklung. Die Grundsätze der Erziehung haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts radikal verändert, nicht allein durch Menschen wie A.S. Neill mit seinem Glauben an das Gute im Kind, aber doch durch die Richtung, deren bekanntester Vertreter er war. Solche Tendenzen kommen in der komprimierten Form der Ausstellung eindeutig zu kurz.
Nacktheit ohne Scham
Die Sicht auf die Nacktheit des menschlichen Körpers erfuhr im Laufe der letzten hundert Jahre ebenfalls eine interessante Entwicklung. Während die Lebensreformer nur in abgegrenzten Plätzen – auf dem Hügel bei Ascona oder innerhalb des FKK-Geländes bei Thielle am Neuenburger See – verweilten, eroberten sich die Badelustigen nach dem 2. Weltkrieg ihre FKK-Strände in verschiedensten Küstenorten. Bemerkenswerterweise gab es in der ehemaligen DDR besonders viele FKK-Ferienorte. Und um die Jahrtausendwende wurden im Appenzellerland zuweilen Nacktwanderer gesichtet, zum Erstaunen bzw. teilweise zum Unmut der Einheimischen.
Ausdruckstanz als Teil der Lebensreformbewegung: Tänzer Sigurd Leeder in Ascona, 1925 © SAPA, Nachlass Sigurd Leeder, Fotograf: Rudolf Opitz
Statt sich auf die ideellen Ursprünge der Lebensreformer zu stützen, zeigt die Ausstellung auf, wie man heute damit umgeht: Der Wunsch nach «Selbstoptimierung» boomt – auf ziemlich oberflächliche Weise. Immerhin stellt die Ausstellung viele Ansätze vor; wer die Themen vertiefen will, wird es angesichts der heutigen schier unendlichen Möglichkeiten zur Internetrecherche nicht schwer haben, die zwiespältigen Ideen der Lebensreform-Bewegung zu studieren.
Die Forschungsergebnisse in Form einer Ausstellung einem breiten Publikum zugänglich zu machen, lag auch im Interesse des Museums: «Das Bernische Historische Museum», erklärt sein Direktor Jakob Messerli, «bietet eine Plattform für Themen der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit. Es gehört zu den Zielen dieser Institution, offen zu sein für die Vernetzung mit Akteuren ausserhalb des Museums.»
Das Bernische Historische Museum zeigt diese Ausstellung bis 5. Juli 2020.
Titelbild: Wie sieht Deine ideale Lebensweise aus? Besucherinnen und Besucher können ihre eigenen Vorstellungen über ein ideales Leben in die Ausstellung einbringen. © Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto: Christine Moor