StartseiteMagazinKolumnenIch lebe zurzeit im Konjunktiv

Ich lebe zurzeit im Konjunktiv

Nein, ich schreibe nicht über die Corona-Virus-Krise. Als ich mich entschlossen hatte, dem dringenden Appell des Bundesrates zu folgen, nahm ich die Quarantäne für uns Senioren ohne Murren hin. Ich habe während den ersten Tagen alle möglichen Sendungen im Fernsehen geschaut und in Zeitungen langfädige Artikel gelesen. Doch nun überblättere ich die grossen Nachrichten und lasse mich höchstens noch durch Leserbriefe verärgern, wenn einer schreibt, der Blitzkasten in der Nähe des Dorfs sei reine Abzockerei. Die Kolumne von Kollege Schaller wollte mir nicht so recht gefallen, weil er das Motto  «Mehr Freiheit, weniger Staat» nicht vollständig zitierte. Es heisst nämlich: «Mehr Freiheit und Selbstverantwortung – weniger Staat». Noch nie, wie in dieser Corona-Krise, haben Bundesrat und sogar die deutsche Bundeskanzlerin derart inständig mehr Selbstverantwortung von den Bürgerinnen und Bürgern gefordert; und der Staat sieht sich gezwungen, alle möglichen Hilfspakete zu schnüren, damit das wirtschaftliche Leben nicht erliegt. Aber auch in diesem Bereich wird Selbstverantwortung verlangt.

Ich stelle fest, dass alle meine Wünsche im Feld des Konjunktivs herumhüpfen. Wir hatten eine Reise nach Weimar, Dresden und Umgebung geplant. Am ersten Abend hätten wir in Tübingen übernachtet und im herrlich verspielten Gasthaus «Forelle» gegessen, wo schon Goethe einst tafelte. Vielleicht nicht eine Forelle, ich träumte schon von einem saftigen Filet von einem schwäbischen Rind. Rothenburg ob der Tauber hätten wir links liegen lassen und wären einen halben Tag in Bamberg geblieben, um später in Ilmenau Logis zu beziehen. Auch unsere Reisezeiten im Allgemeinen blieben im Konjunktiv, denn wir hätten je nach Lust und Laune noch spät ein Hotel gebucht, was man heute ja kann. Vor vielen Jahren hätte ich einmal beinahe unter Olivenbäumen übernachten müssen, weil ich nicht rechtzeitig ein Hotel reserviert hatte.

Auf dem Plan stand ein Besuch der Burg, auf der Luther das Tintenfass an die Wand warf und glaubte den Teufel zu treffen. Den Fleck an der Wand zu sehen hätte mir riesig Spass gemacht, denn solche Geschichten mag ich. Ich glaube, auch Luther lebte damals im Konjunktiv, denn das Tintenfass und fast alle Tinte galten weniger dem Teufel als dem Papst. Wittenberg, Weimar, Erfurt, Leipzig standen auf dem Programm und noch weitere Städte wie Erfurt und Jena. Schliesslich lockte in Dresden die neu eröffnete Gemäldegalerie. Auch das war eine verfehlte Hoffnung. Wir hätten nur allzu gerne Giorgiones «Schlummernde Venus», die gerade vor einer Woche in der NZZ abgebildet war, etwas genauer betrachtet. Und als altes Bildungsrelikt wusste ich, dass der junge Goethe über die «Sixtinische Madonna mit Kind» von Raffael geschwärmt haben sollte. Wie gerne hätte ich sie gesehen und über alles geschmunzelt, was mein Mitreisender darüber noch hätte anhören müssen. Ich konsultierte die Karte und sah, dass wir auf dem Rückweg hätten nach Prag fahren können. Allerdings gebe ich zu, dass Prag nicht auf dem Programm stand, aber in der Art wie wir jeweils reisen, wäre alles möglich gewesen.

Die wahren Meister des Konjunktivs sind die Launen. Das «Hätte» und das «Wäre» übt eine grosse Macht über den Menschen aus. Er wird, wenn einmal diese Corona-Krise ausgestanden ist, das Gespräch dominieren. Wir wären, wenn …. Wir hätten bei anderen Umständen … es ganz anders gemacht. Dieser Konjunktiv hält auch sonst den Menschen fest im Griff und leitet unglaublich viele Ausreden und Lügen ein. Der Konjunktiv eignet sich aber auch sehr gut, um sich selbst zu trösten, zu belügen und zu entschuldigen. Er ist der grösste Zauberer im Gespräch. Ich habe mich vor der Corona-Krise einmal auf meine Sprache konzentriert. Ich glaube, ich habe mehr Sätze im Konjunktiv als im Indikativ gebraucht. Auch in der politischen Sprache ist er umstrittener Meister. Was wäre, wenn wir die Begrenzungsinitiative annehmen würden, und was, würden wir sie ablehnen? Es ist gut, dass die Abstimmung verschoben wurde. Wir brauchen jetzt Ruhe, damit wir eines Tages gut im Indikativ ankommen und wir um eine Lehre reicher wären.

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2 Kommentare

  1. Lieber Kollege Andreas Iten
    Richtig. Der ursprüngliche Slogan der FDP hiess: Mehr Freiheit und Selbstverantwortung – weniger Staat. Weil den damaligen FDP-Verantwortlichen der Slogan etwas zu sperrig war, gingen sie mit dem Slogan «Mehr Freiheit – weniger Staat» in den Wahlkampf. Und so blieb die verkürzte Formulierung in Erinnerung. Es bleibt eben hängen, was ankommt und nicht das, was ursprünglich gemeint war.
    In der Corona-Krise ist eines ganz zentral und da bin ich mit Andreas Iten indes völlig einig: Selbstverantwortung.

  2. Ich denke die Coronakrise macht uns Menschen einmal mehr Bewusst, das wir auf die Natur und nicht die Natuer auf uns Menschen angewiesen ist.
    Es ist leider Tatsache das wir Menschen erst unter existenziellem Druck anfangen zu reagieren ?
    Auch denke ich das wir Menschen uns in einem Hamsterrad oder in einem Labyrint dem wir nicht oder nur mit viel geistiger und physischer Kraft entgegenwirken können.
    Ich fragte mich letzthin ob die Ursache unseres menschlichen Versagens im Bezug zur Natur wohl alleine auf die » Erbsünde » zurückzuführen ist.

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