FrontLebensartVom Bauer zum Hoflieferanten

Vom Bauer zum Hoflieferanten

Spreitenbach ist mit dem ältesten Shoppingcenter der Schweiz das Einkaufsparadies par excellence. Dieses Paradies ist seit der Coronakrise Seniorinnen und Senioren weitgehend verschlossen. Doch die Familie Lienberger vom Spreitenbacher Hofladen im alten bäuerlichen Dorfkern reagierte sofort mit einem Hauslieferdienst.

Die Corona-Pandemie lässt neue Geschäftsmodelle entstehen. Kurz nach Bekanntwerden der verordneten Quarantäne entdeckte meine Tochter auf Facebook die Mitteilung, dass der Spreitenbacher Hofladen Obstgarten einen Hauslieferdienst anbietet. Nur etwa zweihundert Meter hinter dem Shoppingcenter befindet sich das Buurelädeli der Familie Lienberger in ländlicher Idylle.

Der Hofladen «Obstgarten» der Familie Lienberger in Spreitenbach hinter dem Einkaufszentrum.

Spreitenbach versteht es, die grössten Gegensätze zu verbinden. In den 1960er Jahren hatte man die Vision einer «Satellitenstadt» und katapultierte damit die ländliche Aargauer Gemeinde im Limmattal in die Moderne. Es entstanden erste Hochhäuser, das erste Schweizer Shoppingcenter wurde 1970 eröffnet, die erste IKEA ausserhalb Schwedens folgte 1973. Industrie und Lagerhäuser machten sich breit, Verkehrswege wurden erweitert mit dem Bau der Autobahn, die Eisenbahn mit dem Heitersberg-Tunnel, der Güterbahnhof und jetzt mit dem Bau der Limmattalbahn. Spreitenbach zählt heute etwas mehr als 12’000 Einwohner, davon die Hälfte Ausländer aus über 70 Nationen. Von Anfang an klebt an Spreitenbach in der öffentlichen Wahrnehmung ein negatives Image, und doch lebt es sich hier sehr friedlich. Man trifft sich beim Einkaufen im Shoppingcenter, kennt sich über die Schule oder über einen der über sechzig Vereine. Und nur wenige Meter hinter Industrie und Shoppingcenter liegt der idyllische alte Dorfkern.

Der Bauernhof mit den Stallungen der Familie Lienberger mit Blick auf das Shoppingcenter und die zwei Wohntürme: die «Rote Blutwurst» und die «Graue Leberwurst».

Der Bauernhof mit dem Hofladen Obstgarten ist seit vielen Generationen im Besitz der Familie Lienberger. Er wurde im 19. Jahrhundert erbaut, brannte 1901 bis auf die Grundmauern nieder und wurde wieder neu aufgebaut. Im Bauernhaus wohnen Lienbergers mit drei Generationen unter einem Dach. Vor dem Haus befindet sich der Garten mit Gemüse für den Eigenbedarf, aber auch für den Verkauf.

Reto Lienberger beim Schneiden der Obstkulturen.

Der Hof ist ein klassischer Familienbetrieb: Reto Lienberger ist diplomierter Meisterlandwirt und seine Frau Barbara diplomierte Pflegefachfrau mit Teilzeitpensum im Kantonsspital Baden. Reto ist zuständig für die Produktion, Barbara für den Direktverkauf im Hofladen. Die drei Töchter helfen im Betrieb mit, ebenso die Eltern Christa und Werni Lienberger. Den Hofladen, wo sie das eigene Gemüse und Obst verkaufen, hat schon Mutter Christa aufgezogen. Um ein volles Sortiment anbieten zu können, fährt Barbara Lienberger heute zwei bis dreimal wöchentlich zum Engrosmarkt nach Zürich und kauft das ein, was auf dem Hof selbst nicht produziert werden kann.

Das «Buurelädeli Obstgarten» von innen. Nebst Gemüse und Obst werden auch Teigwaren, Eier, Käse, selbstgemachte Konfitüren, Öl, Sirup und der eigene «Eichrebe» Wein verkauft.

Dem Laden angeschlossen ist auch eine Stallbar, wo in gemütlicher Atmosphäre Familientreffen oder Betriebsessen stattfinden können. Reto, leidenschaftlicher Koch, die Töchter kreative Dessertkünstlerinnen, Barabara zuständig für die Innendekoration gestalten jede Einladung bis zu 60 Personen zum Erlebnis.

Jeden Mittwoch bringt mir Gabi als Freiwillige vom Hofladen Spreitenbach meine bestellten Früchte und Gemüse. Foto: rv

Bisher bot der Hofladen keinen Hauslieferdienst an. Aber mit der Coronakrise hatten Lienbergers spontan die Idee, Menschen in Quarantäne ihre Hofprodukte ohne zusätzlichen Kosten nach Hause zu bringen. Sie waren die ersten in der Region, die mit einem solchen Angebot über social media reagierten. Die Bäckerei zog nach und die reformierte Kirche anerbot sich, mit Freiwilligen Einkäufe für ältere Menschen zu tätigen. Zudem bieten verschiedene private Initiativen Unterstützung fürs Einkaufen an.

Auf der Internetseite des Hofladens ist das Angebot sichtbar, am Mittwoch und Freitag wird ausgeliefert. Inzwischen sind es regelmässig fünfzig Auslieferungen, die jeweils mit sechs bis sieben Personen vorbereitet und abgepackt werden, dabei hilft die ganze Familie mit, auch die Schwiegersöhne. Freiwillige bringen die gefüllten Taschen zu den Kunden.

Das ganze Unternehmen ist für die Familie auch logistisch eine grosse Herausforderung, die Bestellformulare auf der Webseite werden täglich aktualisiert, neue Bezahlmöglichkeiten wurden eröffnet; da entdeckte auch ich TWINT. Sicher wurde das ganze Unternehmen im Vorfeld unterschätzt. Nach anfänglichen Unsicherheiten läuft jetzt alles reibungslos und wir Kunden sind sehr dankbar, regelmässig frisches Gemüse und Früchte an die Haustüre geliefert zu bekommen. Auf die Frage, ob sie nach der Coronakrise weiter Hoflieferungen anbieten würden, meinte Reto Lienberger, wohl eher nicht.

Ein reiches Angebot von Gemüse aus eigenem Anbau und teilweise vom Engrosmarkt.

Lienbergers betreiben hauptsächlich Feld- und Obstbau. Auf ihren fast dreissig Hektaren Land bauen sie verschiedene Kartoffelsorten an und ernten jährlich an die fünfundvierzig Tonnen Kartoffeln. Beim Getreide haben sie sich auf Ur-Dinkel spezialisiert, der Tierfutterindustrie liefern sie Körnermais und Eiweisserbsen. Die Kirschen sowie das Kernobst mit vierzehn verschiedenen Apfelsorten wachsen in einer modernen Anlage zwischen Dietikon und Spreitenbach und werden im eigenen Hofladen verkauft. Äpfel werden auch zu Süssmost verarbeitet. Der Anbau von zertifizierten Biogemüse und Früchten ist für den Betrieb aus ökonomischen Überlegungen nicht möglich.

Zweihundert Sorten Kürbisse reifen zwischen April bis September auf den Feldern in Spreitenbach.

Eine besondere Spezialität sind Lienbergers Kürbisse. Auf rund 3,5 ha Land wachsen ungefähr zweihundert verschiedene Kürbissorten zwischen April bis September und werden vom Hof direkt vermarktet. Die reiche Ernte wird in einer Kürbisausstellung auf dem Hof und der Strasse entlang bis zum Shoppingcenter gezeigt und zieht jedes Jahr viele Interessierte an. Die traditionelle Kürbisausstellung beginnt jeweils mit einem Kürbisfest im September – dabei wird eine währschafte Kürbissuppe serviert – und kann bis Ende November besucht werden.

Kürbisausstellung vor dem Hof unter dem prächtigen Magnolienbaum.

Eine grosse Liebhaberei ist der Weinbau. Am einzigen Südhang im Sandbühl wachsen Reben unter besten Bedingungen und führen zu einer guten Qualität von Trauben. Gemeinsam mit dem Vater wird das Fachwissen optimiert: Pinot noir, Cuvée und Sauvignon Blanc sind «Lienberger’s Eichrebe» Weinspezialitäten.

Auch wenn seit 2011 auf dem Hof kein Vieh mehr gehalten wird, verzichten Lienbergers nicht auf Tiere. Die Bienenvölker im Bienenwagen neben der Obstanlage produzieren reichlich Honig. Die Hühner haben durch den mobilen Hühnerstall viel Auslauf, die frischen Eier werden im Laden verkauft. Man kann sogar die Patenschaft für ein Huhn übernehmen. Auch an die zwanzig Freilandschweine können sich neben ihrer Hütte auf einer grossen Wiese austoben. Zudem bestehen sieben Auslaufboxen für Pensionspferde sowie Weidekoppeln für die Pferde.

Lienbergers Bauernhof erinnert an alte Zeiten, doch sind sie dank Internet bestens vernetzt. Dazu hat die jüngste Generation viel beigetragen, denn die beiden erwachsenen Töchter sind gelernte Kauffrauen und packen bei Bedarf auf dem Hof mit an.Glückliche Hühner mit grossem Auslauf.

Beitragsbild: Barbara Lienberger im Hofladen
Fotos: Familie Lienberger

Mehr Informationen zum Hof der Familie Lienberger, hier 

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Beliebte Artikel