StartseiteMagazinKulturHolprige Wege zur Schweizer Solidarität

Holprige Wege zur Schweizer Solidarität

Mit «Klosterfest 2027» hat Hubert Spörri ein Werk verfasst, das eine trockene Abhandlung sein könnte. Aber nein, Spörri packt die Geschichte um die Aufhebung der Klöster und die Entstehung des Schweizer Psalms in derart spannende Erzählungen und Dialoge ein, dass man das Buch kaum mehr aus der Hand legt.

In dieser angespannten Zeit ist die Schweiz stolz auf die Solidarität im Land, doch war das nicht immer so, und brüchig ist sie auch heute noch. Immerhin kommt es nicht mehr zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen oder innerhalb der Kantone wie vor der Gründung der Schweiz als Bundesstaat im Jahr 1848.

Der Einfall der Franzosen 1798 mit der Ausrufung der Helvetischen Republik und vierzig Jahre später die Aufhebung der Klöster im Aargau waren von grossen Turbulenzen begleitet. Liest man die Geschichtsbücher, erscheinen diese Geschehnisse weit weg. Wie dramatisch sie wirklich waren, wird einem bewusst, wenn man Hubert Spörris «Klosterfest» liest. Sein voluminöses Werk lebt von Geschichten und Zeitzeugnissen betroffener Menschen, die in Dialogen miteinander kommunizieren, ergänzt von ein paar erfundenen Gestalten. So liest sich sein Lesebuch wie ein Roman, streckenweise wie ein Krimi, basierend auf historischen Quellen.

Johann Bucher, Pater Alberik Zwyssig, 1843, Kloster Mehrerau.

Die Hauptfigur, um die sich die ganze Geschichte dreht, ist Albrecht oder Alberik Zwyssig (1808-1854), heute bekannt als Komponist des Schweizerpsalms, unsere Nationalhymne. Er war Zisterziensermönch, Komponist und Kapellmeister und stammte aus Bauen im Kanton Uri. Seine Mutter wollte Klosterfrau werden. Doch nachdem die napoleonischen Truppen 1797 das Kloster Seedorf/UR überfallen, sie und alle Novizinnen hinausgeworfen und vergewaltigt hatten, kehrte sie in ihr Dorf zurück und gründete eine Familie. Ihr streitbarer Ehemann trat in die holländischen Kriegsdienste ein. Die verwaiste Familie Zwyssig erhielt vom Pfarrer Unterstützung, so dass die vier Söhne die Schule besuchen konnten. Drei von ihnen traten ins Kloster ein und erfüllten so den Traum ihrer Mutter.

1821 kam Johann Josef Zwyssig als 13-Jähriger ins Gymnasium der Klosterschule Wettingen im Aargau. Seine musikalischen Fähigkeiten wurden früh erkannt und gefördert. 1827 legte er das Gelübde ab und blieb als Frater Alberik Zwyssig im Zisterzienserkloster Wettingen. Im Jahr darauf empfing Alberik die Priesterweihe und der Abt ernannte ihn zu seinem Sekretär sowie Kapell- und Chormeister.

Augustin Keller (1805-1883). Der Schweizer Politiker war verantwortlich für die Aufhebung aller Aargauer Klöster 1841.

Im Aargau änderten sich in jener Zeit die politischen Verhältnisse drastisch. 1831 hatte der seit 1803 bestehende Kanton eine neue, liberal geprägte Verfassung angenommen. Es brodelte zwischen den Konservativen und den Liberalen, welche die Kantonsregierung dominierten und die Klöster 1835 unter staatliche Verwaltung stellten. Es gab grosse Unruhen insbesondere im Freiamt, sogar mit Toten. 1841 forderte der ultraliberale (katholische) Seminardirektor Augustin Keller im Grossen Rat die Schliessung aller Klöster, die er als fortschrittsfeindlich und «Ursprung allen Übels» ansah. Er liess durch Regierungstruppen alle Klöster besetzen. Die Nonnen mussten ihr Kloster innerhalb von acht Tagen, die Ordensmänner den Kanton Aargau innerhalb von zwei Tagen verlassen.

Die Regierung zog das ganze Klostervermögen ein, überführte Bücher und Manuskripte der Klosterbibliotheken nach Aarau, veräusserte den Klosterschatz und viele Kulturgüter an Händler in aller Welt. Das ganze Kapital floss in die Staatskasse. Das Armenwesen, bisher Aufgabe der Klöster, wurde vom Staat mangelhaft umgesetzt, so dass die Armut wuchs. Aber für die Menschen war nicht die Aufhebung der Klöster schockierend, denn schon 1803 wurden mehrere Klöster säkularisiert, sondern die Brutalität, mit der die Regierung die Massnahme vollzog.

Proteste innerhalb der Alten Eidgenossenschaft blieben nicht aus, zumal der Kanton Aargau gegen den Bundesvertrag von 1815 verstossen hatte, der den Fortbestand der Klöster garantierte. Die Verhandlungen in der Tagsatzung mündeten im Kompromiss, dass die Aargauer Kantonsregierung 1843 vier Frauenklöster wieder zulassen musste, die Männerklöster blieben jedoch für immer geschlossen. Der ursprünglich reine Aargauer Konflikt zwischen Katholiken und Reformierten dehnte sich auf die ganze Schweiz aus und endete 1847 im Sonderbundskrieg, der in der Folge 1848 zur Gründung des Bundesstaates führte.

Klosterkirche Wettingen. Foto: Commons Wikipedia org. 

Kaum war das Kloster Wettingen 1841 in der Hand des Kantons, übernahm der politische Anführer Augustin Keller die ehemalige Klosterschule Wettingen, eröffnete das Lehrerseminar und setzte sich selbst als Direktor ein. Hubert Spörri vermutet, dass dem noch jungen Kanton die Geldmittel fehlten und er mit der Klosteraufhebung die Staatskasse füllen wollte.

Alberik Zwyssig gehörte zu den vertriebenen Mönchen. Er fand in verschiedenen Klöstern Unterschlupf, u.a. im Frauenkloster Wurmsbach (Jona am Zürichsee), wo er über sechs Jahre im Töchterinstitut Musikunterricht erteilte. 1854 fanden die Wettinger Mönche im Vorarlbergischen Mehrerau bei Bregenz ein verfallenes Kloster, das sie übernehmen und renovieren konnten. Einen Monat nach der Klostereinweihung, der Konstituierungsfeier, starb Alberik am 18. November sechsundvierzigjährig an einer Lungenentzündung. Das Kloster Mehrerau bestand als «Konvent Wettingen», bis die Nationalsozialisten 1938 einfielen und dort ein NS-Schülerheim einrichteten und die Mönche vertrieben.

Hubert Spörri, Alberik Zwyssig und Leonhard Widmer 1839 in der «Öpfelchammere», das Restaurant der Liberalen am Zürcher Rindermarkt, wo auch Gottfried Keller Gast war.

Heute erinnert der Schweizerpsalm an den Zisterziensermönch Alberik Zwyssig, er ist ein Gemeinschaftswerk von 1841. Die Melodie stammt von Zwyssig, dem klerikalen Komponisten, und die Verse vom radikalliberalen Zürcher Politiker und Dichter Leonhard Widmer (1808-1868). Die anfängliche Hassliebe zwischen den zwei Männern entwickelte sich über die Musik zur Freundschaft. Und so wurde der Schweizerpsalm in einer zerrissenen Zeit zum Versöhnungslied und setzte sich 1961 als Schweizer Nationalhymne durch.

Hubert Spörri schöpft aus einem riesigen Pool von Akten, Aufzeichnungen, Briefen, Erzählungen aus historischen Forschungen. Er versteht es, daraus lebendige Dialoge herzustellen. Die historischen und auch erfundenen Personen sind ständig miteinander im Gespräch, und wir als Leserin und Leser hören ihnen zu: Wie sie ihre dramatische Zeit erlebten, welche Freundschaften sie pflegten, wie die Mönche von den Klosterfrauen unterstützt wurden und dreizehn Jahre nach einem neuen Kloster suchten und immer wieder vertrieben wurden durch die Glaubenskriege zwischen Katholiken und Reformierten, bzw. zwischen Konservativen und Liberalen.

Für das Schlusskapitel versetzt sich der Autor ins Jahr 2027. Als Vision organisiert er zum achthundertjährigen Jubiläum des Klosters Wettingen (1227) ein fiktives Klosterfest mit einem Überraschungsgast. Seine Fantasie, aber auch sein Fachwissen scheint unerschöpflich zu sein. Zahlreiche Abbildungen illustrieren das Geschriebene. Wir können uns die ganze Geschichte bildhaft wie in einem Film vorstellen. Nie wird es langweilig, immer möchte man wissen, wie es weitergeht und so habe ich mit diesem dicken Wälzer von 700 Seiten spannende Ostertage und Nächte verbracht.

Abbildungen mit Genehmigung von Hubert Spörri.

Hubert Spörri, Klosterfest 2027. Randgeschichten zum Schweizerpsalm. Ein historiographisches Lesebuch, Frick 2019. ISBN-Nr.: 978-3-907106-37-2.
Das
Buch kann direkt beim Autor bezogen werden: hubertspoerri@hotmail.com

Hinweis: Die Ausstellung “Nonnen. Starke Frauen im Mittelalter” im Schweizerischen Landesmuseum kann online in einem virtuellen Rundgang besucht werden.

 

 

Beliebte Artikel

Mitgliedschaften für Leser:innen

  • 20% Ermässigung auf Kurse im Lernzentrum und Online-Kurse
  • Massgeschneiderte Partnerangebote
  • Jahresbeitrag von nur CHF 50.
  • Zugang zu Projekten über unsere Partner
  • Gratis Hotelcard für 1 Jahr (50% Rabatt auf eine grosse Auswahl an Hotels in der Schweiz)

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein