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Zeigt her eure Füsse

Katja Oskamp erzählt in ihrem Buch «Marzahn, mon amour» in achtzehn kurzen Kapiteln die «Geschichten einer Fusspflegerin». Es sind Geschichten von einfachen Leuten aus dem Osten Berlins, welche die Autorin in ihrem neuen Beruf als Pedicüre erfahren hat.

Die Autorin Katja Oskamp (*1970 in Leipzig) wuchs in Berlin auf, studierte Theaterwissenschaft, arbeitete als Dramaturgin am Volkstheater Rostock und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Mit vierundvierzig war sie mit vier erfolgreich veröffentlichten Büchern eine angesehene Schriftstellerin. Das Leben hätte immer so weitergehen können. Doch für das fünfte Buch interessierte sich kein einziger Verlag, zudem zogen die Kinder aus, der Mann war krank und das Leben fad geworden.

Katja Oskamp. Foto: ©Paula Winkler, Hanser Verlag, Berlin.

In dieser niedergeschlagenen Stimmung buchte sie einen Termin im Kosmetiksalon bei Tiffy, einer Bekannten, und liess sich an Händen und Füssen pflegen und massieren, um sich etwas Gutes zu tun. Tiffy setzte ihr den Floh ins Ohr, als Fusspflegerin mitzuarbeiten, weil sie zu viel Arbeit habe. Eine achtwöchige Ausbildung zur Fusspflegerin war gerade ausgeschrieben und Katja meldete sich mit anderen Frauen, alle auch «nicht mehr jung, nicht mehr schlank», und liess sich auf etwas Neues ein.

Wie sie dieses neue Metier erlernt, beschreibt Katja Oskamp im Einführungskapitel. Es sind feine Beobachtungen der Menschen ihres neuen Umfelds, der Kursteilnehmerinnen, der Lehrerin, und sie berichtet auch vom mühsamen Erarbeiten der Theorie, dem Auswendiglernen aller achtundzwanzig Fussknochen, der diversen Krankheitsformen, der Werkzeuge und Materialien. Stolz auf ihr Zertifikat erzählt sie ihren Freundinnen und Bekannten von der Umschulung, doch es schlagen ihr nur Unverständnis, Ekel und Mitleid entgegen. In deren Augen bedeutete es: «Von der Schriftstellerin zur Fusspflegerin – ein fulminanter Absturz.»

Katja Oskamp weiss, sie hat zwei gesunde Hände, die einer nützlichen Arbeit nachgehen wollen, auch wenn der Anfang nicht einfach ist. Und sie fährt jeden Tag mit der Strassenbahn Richtung Osten an den Berliner Rand, nach Marzahn, einst die grösste Plattenbausiedlung der DDR. Das Kosmetikstudio befindet sich in einem achtzehnstöckigen Hochhaus im Erdgeschoss, wo sie ihre Kundinnen und Kunden, die hier mit Krücken, Rollatoren und Rollstühlen problemlos hereinkommen, in der weissen Arbeitskleidung empfängt.

Plattenbauten in Marzahn, 1987. Foto: Hubert Link, commons wikipedia.org.

Ihre Neuausrichtung hat Katja Oskamp nie bereut, das zeigen ihre Geschichten. Durch die Menschen, die sie berührt, deren Füsse sie behandelt und pflegt, durch die Gespräche mit ihnen hat ihr Leben neuen Sinn bekommen. Es sind vorwiegend Rentnerinnen und Rentner, die den Zusammenbruch der DDR miterlebt haben, und die sich mit ihren alten Fähigkeiten auf Neues einlassen mussten. Es sind eigenständige, resolute, unsentimentale Persönlichkeiten. «Mit ihrer Berliner Schnauze meckern sie und kommen auf den Punkt», sagt die Autorin in einem Interview.

Wenn ein Kunde zum ersten Mal im Fusspflegeraum Schuhe und Socken abstreift und die Füsse ins warme Fussbad taucht, entschuldigt sich jeder für seine Füsse, in welchem Zustand sie auch immer sind, stellt Katja Oskamp fest. «Die Sache ist neu und ungewohnt, die Begegnung ein bisschen zu intim, Peinlichkeit entsteht – dem trägt die Entschuldigung Rechnung». Dabei beginnt auch das erste tastende Gespräch. Nach der Fusswaschung tritt Katja Oskamp mit dem Fuss auf die Pedalerie und leise surrend fährt der Fusspflegestuhl in die Höhe. Spätestens hier wird die Kundin Königin auf dem «pinkfarbenen Thron» und sie selbst kriegt ihren Sitzplatz als Dienerin auf dem Rollhocker. Bei der eigentlichen Arbeit mit Nagelschneiden, Nagelhäute zurückschieben, Hornhaut abfräsen, Feilen kommen die wichtigen Themen zur Sprache: Der Krebs ist zurück, Beziehungsprobleme, der Urlaub war schön. Und wenn sie die Füsse massiert, folgen die Bekenntnisse: «Ich drücke unten, und oben kommt es raus.» Dann geniesst auch die sechsundneunzigjährige Mutter Noll, die kaum mehr spricht, und ruft «Schööön» oder «Wunderschööön».

Katja Oskamps Klienten sind fast alles Stammkunden, alle erlebten den Fall der Mauer und die Wende, die wie ein Riss durch ihr Leben geht. Sie erfuhren, wie ihr Wohnort Marzahn entwertet wurde, wie ihre Jobs nicht mehr existierten, und sie mussten sich mit ihren alten Fähigkeiten neu erfinden. Sie meisterten das Leben «anständig und tapfer» und sind stolz, in der Plattenbausiedlung zu wohnen. Auch wenn ihr Leben nicht TV-tauglich ist, finden sie in Katja Oskamps Buch ihren Platz.

Die fünfundachtzigjährige Frau Guse, deren Füsse nach der Behandlung «das Jüngste an der ganzen Frau» sind, hatte ohne Berufsausbildung zeitweise als Putzfrau gearbeitet und fünf Kinder allein grossgezogen, «sie ist nicht dement, sie entfernt sich nur langsam und im Rückwärtsgang von der Welt».

Herr Pietsch war Parteifunktionär in der DDR, «ein wandelndes Klischee». Mit seiner karierten Schiebermütze kommt er wie ein Inspektor dienstlich in den Salon, als müsse er etwas prüfen. Er hat Mühe in dieser Welt, die Familie zog sich von ihm zurück und mit den Frauen, mit denen er in seinen besten Jahren zahlreiche Affären hatte, läufts nicht gut, auch die Fusspflegerin zeigt kein Interesse.

Die achtzigjährige Frau Bonkat musste mit sieben Jahren aus Königsberg flüchten. Sie führte in Berlin ein mutiges, selbstbestimmtes Leben, schloss eine Ausbildung als Sekretärin ab, wollte aber Krankenschwester werden, was ihr über Umwege auch gelang. Sie arbeitete immer gern, suchte neue Aufgaben, bildete sich weiter. «Wo, das war ein bisschen egal. Ich bin Flüchtling. Und jetzt bin ich eben hier», ihre Heimat bleibt Königsberg.

Manchmal muss Katja Oskamp einen Namen aus ihrem Terminkalender ausradieren, wie jenen von Herrn Paulke. Er schleppte für die grösste Spedition der DDR Schränke und Klaviere, war mehrfach an Krebs erkrankt, verlor die Zähne. Über seinen Aufenthalt im Krankenhaus erzählte er der Fusspflegerin: «Essen war beschissen, drei Wochen bloss Suppe, zehn Kilo hab ick valorn. Aba de Zehennägel sind jewachsen.» Dann rief seine Frau im Salon an, um den Termin abzusagen: «…er is jestorben.»

Im Zentrum dieses schmalen Bandes stehen die Geschichten um die Kundinnen und Kunden einer Fusspflegerin, aber immer wieder schwingen Katja Oskamps eigene Geschichte und die ihrer Kolleginnen mit hinein. Es sind berührende, witzige, auch melancholische Erzählungen, die von einem starken Lebenswillen der Menschen berichten, die sich trotz Umbrüchen nicht unterkriegen lassen.

Beitragsbild: rv

Katja Oskamp, Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fusspflegerin, 143 S., Hanser Verlag, Berlin, 2019, ISBN 978-3-446-26414-4

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