Als ich irgendwo in der Schweiz zu einer 1. August-Rede eingeladen war, in Melchnau, Wädenswil, Marthalen, um einige Gemeinden zu nennen, an die ich mich noch gut erinnere, war ich im Vorfeld jeweils recht angespannt, gar nervös: Was sollte ich auch sagen, was alle immer auch sagen, dass wir in einem freien Land leben dürften, dass wir das schätzen sollten, dass wir in der direkten Demokratie mitreden dürften? Dass das leider jeweils meistens aber nur die Hälfte der Stimmberechtigten tun würde, dass das nicht so gut sei. Der staatsbürgerliche Unterricht müsse deshalb gefördert, ausgebaut werden.
Mir waren diese Sätze immer zu oberflächlich, zu konventionell, zu wenig kritisch. Manchmal zitierte ich Dürrenmatt, der die Schweiz mit einem Gefängnis verglich, manchmal Frisch mit dem Satz „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen”. In den eher urbaneren Gemeinden wagte ich mehr, sah eine Chance für die Schweiz in der europäischen Integration, mindestens im Europäischen Wirtschaftsraum EWR, wies auf die Globalisierung hin und meinte, dass sich die Schweiz zu öffnen habe, zuerst zu Europa, dann auch zur Welt. Diese Passagen bettete ich jeweils ein in die Mitte der Rede, versuchte sie nicht allzu provokativ zu formulieren. Ich sah es den Gesichtern an, die einen, meistens die Minderheit, freute sich, die anderen, die Mehrheit, schüttelte den Kopf. Ich wurde gewahr: Kritische Töne passten nicht zum 1. August.
Wenn ich heute am 1. August von Italien aus auf die Schweiz blicke und mir überlege, was ich in diesem Jahr, geprägt von Corona, zu sagen hätte, würde ich heute nicht mehr Frisch und Dürrenmatt, sondern André Lüthi (60), CEO, und Roberto Di Muro (55), Ex-Fussball-Profi, Buschauffeur, zitieren.
André Lüthi, ein Mann, der viel gereist ist und dem Tagesanzeiger gegenüber meinte: „Als ich jung war, wollte ich nichts sehnlicher, als dieser Bünzlischweiz entkommen, heute, nachdem ich viel gereist bin, weiss ich: Dass ich in der Schweiz zu Hause bin und dass die nicht so bünzlig ist.» Und Roberto Di Muro, der ehemalige Fussball-Profi beim FC Zürich, der nach 20 Jahren als Buschauffeur wegen Corona (keine Senioren-Carreisen mehr) entlassen wurde. Statt zu hadern, hat er mit seinem ehemaligen Arbeitgeber zusammen eine neue Stelle gefunden. Roberto Di Muro zum Tagesanzeiger: „Am 3. August kann ich meine neue Stelle als Postauto-Chauffeur auf der Linie Embrach-Flughafen beginnen. Hoffentlich vergesse ich als Fernfahrer keine Haltestelle.“ Ein Mann, der als Migrantensohn in der Schweiz zum richtigen Mitbürger wurde und dennoch seinem Lieblings-Fussballclub SSC Napoli die Treue hält. Und zum Schluss hätte ich resümiert:
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger
Ungewissheit herrscht. Das sind wir Schweizer gar nicht gewohnt. Gewiss war, dass wir mit 7 Jahren in die Schule gingen, eine Lehre, ein Studium absolvierten, mit 2O Jahren in die Rekrutenschule einrückten. Danach solid arbeiteten. Mit 65 Jahren die AHV bezogen. Jetzt könnte alles ganz anders werden.
Gemach: Die Schweiz ist ein grossartiges Land. Wir haben einen Bundesrat, der zu regieren weiss, eine Bevölkerung, die zur Solidarität bereit ist, wenn sie in die Pflicht genommen wird. Wir haben Bildungsinstitutionen, um die wir beneidet werden, Spitzen-Hochschulen, ein duales Berufsbildungssystem. Mit soliden KMUs haben wir ein verlässliches Rückgrad der Wirtschaft. Mit innovativen, weltweit vernetzten Nahrungsmittel-, Chemie-, Pharma-, Maschinen- und Uhrenfirmen haben wir eine Wirtschaft, die hunderttausende Arbeitsplätze immer wieder sicherstellen kann, Wir haben eine Landwirtschaft, die sich immer anzupassen vermag. Und wir sind ein Ferienland, das trotz hoher Preise immer wieder tausende Touristen anzulocken vermag. Wir sind ein Land, in dem nicht nur Verfolgte, wirtschaftlich Bedrängte eine Zuflucht suchen, sondern auch ein Finanzplatz, in dem viele Anleger einen sicheren Hafen für ihre Gelder finden.
Die bange Frage: Hat das alles Bestand in der aktuellen Zeit, in der Corona-Krise? Kann die noch lähmende Ungewissheit zur Gewissheit werden? Können wir mit ihr umgehen? Oder wie es der Schriftsteller Peter von Matt sinngemäss formulierte: Wir sitzen auf einem Boot, das rast auf eine Nebelwand zu. Wir wissen nicht, ob nach der Nebelwand sich ein Abgrund befindet oder sich ein weiter Horizont auftut?
Ja, wenn wir mit dieser Ungewissheit umzugehen lernen, wenn wir die sich daraus ergebenden Herausforderungen annehmen, können wir auch die schwierige Zukunft meistern. Wenn wir die Sicherheitsmassnahmen befolgen, die Masken tragen, immer dort, wo der notwendige Abstand nicht eingehalten werden kann. Wenn wir generationenübergreifend einander beistehen, auch und gerade im Ausgang. Selbst das Vergnügen ist zu relativieren. Es ist nicht mehr alles möglich. Es sind neue Formen zu entwickeln. Ein unbegrenztes Zurück gibt es nicht mehr. Gefragt ist Solidarität miteinander, untereinander in den Altersgruppen. Wir müssen unsere direkte Demokratie neu beleben, unser Verhältnis zum Staat, den wir gemeinsam ausmachen, neu regeln, direkt auf ihn Einfluss nehmen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Beinahe hätte ich zum Schluss gesagt, wir müssen den staatsbürgerlichen Unterricht fördern, ausbauen. Und wäre damit wieder in den alten Gleisen geblieben. Es bleibt immer ein Rest. Auch jetzt in der Corona-Krise.
Lieber Toni, mein Echo zu Deiner Rede: «Jeden Tag können wir neu anfangen!»
Bliib gsund und eine gute Woche!
Deutsch müsste man können. So wie es Anton Schaller schreibt (1. August-Rede) wäre es die erste August-Rede seit Menschengedenken. Wenn man es aber richtig schreibt wie er es meint (1.-August-Rede), dann ist es eine Rede zum 1. August. Was soll’s, auch Journalisten haben Mängel.