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Die Schweizer Gratwanderung

Das Loblied auf die eidgenössische Solidarität, das von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga und Bundesrätin Karin Keller-Sutter zum Nationalfeiertag schon fast unisono als Treueschwur in unseren Ohren nachklingt, hinterlässt mehr als ein Fragezeichen. 

Es steht ausser Frage, dass sich eine Mehrheit der einheimischen Bevölkerung in der Corona-Krise diszipliniert und besonnen verhielt und die obrigkeitlichen Empfehlungen wohl auch weiterhin solidarisch befolgen wird. Dennoch muss uns mit Sorge erfüllen, wie verantwortungslos sich eine Minderheit gebärdet und eine zweite Ansteckungswelle geradezu heraufbeschwört. Der Bruch zieht sich quer durch alle Landesteile, aber es sind vor allem die grösseren Städte und Agglomerationen, welche zu Hotspots der Gefährdung und Unbekümmertheit werden.

Und hier neigt eine vergnügungssüchtige jüngere Generation dazu, alle Warnungen in den Wind zu schlagen und sich in Clubs, Bars und an offenen Gewässern auszutoben, als gäbe es kein Morgen mehr. Die Ferienrückkehrer aus Risikogebieten tragen das Ihre dazu bei, die Infiziertenraten zu beschleunigen, zumal die Kontrollen derart lasch sind, dass sie die Virenträger nur gerade nach dem Zufallsprinzip dingfest machen können. Eigenverantwortung ist auf der Wunschliste der Unverbindlichkeiten gelandet. Die Rechte werden zwar lauthals eingefordert, aber an  die Pflichten mag man ungern erinnert werden.   

Das Wehklagen der Kantone und der Parlamentarier*innen, der Bund habe ihnen in Zeiten des angewandten Notrechts das Heft aus der Hand genommen, ist inzwischen einem Flickenteppich gewichen, wo insbesondere auffällt,  dass unkoordinierte Massnahmen der Kantone zum widersprüchlichen Jekami verkommen und die Ämter mit dem Kontrollvollzug personell heillos überfordert sind. 

Wie heisst es doch in Schillers „Wilhelm Tell“ so poetisch-romantisch überhöht:

Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern / in keiner Not uns trennen und Gefahr / Wir wollen frei sein, wie die Väter waren /eher den Tod, als in der Knechtschaft leben / Wir wollen trauen auf den höchsten Gott / und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

Die drei Eidgenossen beim Schwur auf dem Rütli (Ölgemälde von Johann Heinrich Füssli, 1780)

Wie weit ist es mit unserer Einigkeit, abgesehen davon, dass sich der Aufruf damals noch keineswegs an die Schwestern wandte? Sind wir eine Schönwetter-Demokratie, welche in Bewährungsproben Risse bekommt, die es mit Feiertagsreden zu kitten gilt? Und was ist aus dem „Trauen auf den höchsten Gott“ geworden? Nur das Fürchten vor der Macht der ungezügelten Unvernunft und der Arroganz der Willkür ist uns geblieben.

Wenn der Tagesanzeiger im Leitartikel zum Nationalfeiertag festhält, die Schweiz sei föderalistisch verkrustet, weshalb wir „mehr Zentralstaat“ wagen sollten, ist das aufgrund der Pandemie-Erfahrungen durchaus überlegenswert. Einige folkloristische Mythen gerade am Geburtstag unseres Landes in Frage zu stellen, scheint angebracht. Wenn wir auf 26 autonome Lösungswege setzen und bezüglich der Contact-Tracing-Verifizierung beim Wiederanstieg der Verdachtsfälle an die Grenzen der personellen Ressourcen stossen, dann müssen übergeordnete Instrumente gleich lange Spiesse garantieren, sonst wird die Schweiz zum internationalen Risikofaktor. Ein vernünftiger Pragmatismus sollte der Glorifizerung des Föderalismus weichen, ohne damit das Kind gleich mit dem Bade auszuschütten. Das gilt bekanntlich auch für die Vereinheitlichung und Harmonisierung der Bildungsangebote und die Sorgfaltspflicht gegenüber unseren vier Landessprachen.

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) mahnt zurzeit eindringlich vor einer zweiten Welle und empfiehlt eine schweizweite Maskenpflicht in Läden und öffentlichen Einrichtungen. Aber wenn zuerst einmal darüber diskutiert wird, ob man in Clubs die Höchstgrenze von 300 auf 100 Tanzende (natürlich ohne Schutzmaske) herabsetzen soll, muss einem die Ungleichbehandlung der Risikoträger auffallen. Der Vorwand,  eine Schliessung der Nachtclubs (wie derzeit in Genf) würde dazu führen, die Partygänger überhaupt nicht mehr kontrollieren zu können, macht nachdenklich und heisst nichts weiter, als dass die Eigenverantwortung zum Wunschdenken verkommen ist. 

Während die Herren Pascal Strupler und Patrick Mathys vom BAG an der Pressekonferenz besorgt, aber auch etwas ratlos die jüngste Entwicklung zum Anlass nahmen, die Kantone inständig an ihre Pflichten zu erinnern, hoffen wir vielleicht noch einmal auf Daniel Koch, ob es ihm gelingen möge, mit einer Schwimm- oder Langlauf-Einlage eine Lösung aus dem Hut zu zaubern, welche die gewünschte Generationen übergreifende Solidarität Wirklichkeit werden liesse.    

3 Kommentare

  1. Die Stellungnahme von Herrn Auchter ist eine reine Zumutung und eine Frechheit gegenüber Menschen, die der Meinung sind, das Getue um Corona sei abartig, zumindest einen verhältnisblödsinnig. Mir ist es einerlei, ob jemand eine maske trägt, aber umgekehrt benehmen sich mir gegenüber mit ohne Maske als Pharisäer, schlimmer, als Spitzel und Volkspolizisten(Fichen Skandal in Erinnerung!!) .
    zum Glück gibt es noch leute in diesem Land, die nicht einfach blindlings einer Panikmache folgen und merken, dass die amtlichen Aktionen einer Gehirnwäsche gleichkommen…sowenig Beweise, soviel Spekulation, sgrosses Unverständnis bezügluch wie die Natur funktioniert oder kurz: eine riesige irrationale Angst hat viele Leute erfasst, unglaublich…..oder einfach ein für mich unverständlicher Kadavergehorsam hat eingeschlagen…..

    • Aber, aber, Juri Thurnheer. Ich hoffe, dass du bei einer Infizierung mit dem Covid-19-Virus heil davonkommst und nicht noch einige Gleichdenkende damit ansteckst.

  2. Lieber Herr Thurneer, wir leben zum Glück in einem Land, in dem man ungestraft (fast) alles kritisch hinterfragen darf. Aber zur kritischen Grundhaltung gehört auch, dass man seine eigenen Ansichten immer wieder kritisch hinterfragt. Ich habe mir angewöhnt, bei wichtigen Fragen die verschiedenen Perspektiven auszuleuchten und Pro- und Contra-Argumente unvoreingenommen gegeneinander abzuwägen. In der aktuellen Covid-Pandemie gelange ich zum Schluss, dass die Schweizer Presse über Covid-19 im Allgemeinen verantwortungsvoll kommuniziert und dass die Behörden ihre Aufgaben alles in allem gut lösen. Über Details lässt sich immer streiten. Dass Joseph Auchter kritische Fragen stellt, ist legitim. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die belegen, dass die Solidarität in unserer Gesellschaft heute schwächer ist als in früheren Generationen und dass der Narzissmus zunimmt.

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