Verblüfft lese ich den Satz, den ich hier als Titel setze. Er lässt mir keine Ruhe. Kann ich ihn durch meine Erfahrung bezeugen? Kann er ein Motto für das neue Jahr werden? Nietzsche habe diesen Satz geäussert und der Philosoph Karl Jaspers* habe ihn oft wiederholt und darauf seine Lehre von der Kommunikation begründet. In der Einsamkeit des «Für-sich-allein-Denkens» gebe es keine Wahrheit, war er überzeugt. Wahr allein sei, was uns verbindet. Natürlich wird dieser Satz bei Jaspers überzeugend begründet. Ich möchte hier das Wort «Wahrheit beginnt zu zweien» an zwei Erfahrungen überprüfen.
Ich erinnere mich, dass ich bei Differenzen mit meiner Frau immer überlegt habe, was sie wohl denke. Ich stellte mir Ursachen vor, die bis zu einem möglichen Trennungswunsch reichten. Sie würde mir nicht verzeihen, dass ich sie beleidigt und sie wenig achtsam behandelt, berufliche Aufgaben vor das private Leben gestellt hatte. Daraus entstand, weil sie schwieg, ein ganzer Berg von Vorstellungen; und Vorstellungen behindern die Aussicht oder lenken das Denken auf eine falsche Fährte. Ich litt unter dieser inneren Distanz und konnte ihr Schweigen nicht lange ertragen. Bald spürte ich, dass sie mehr litt als ich. Zaghaft sagte ich: «Was hast du?» Was ich erfuhr, liess das von mir Ausgedachte wie ein Turm von Babel zusammenstürzen. Was ich mir vorgestellt hatte, war völlig falsch. Sie war traurig, dass ich hart reagiert und ihre Gefühle verkannt hatte. Das Gespräch brachte endlich die Wahrheit ans Licht und gab uns die Freiheit der Liebe zurück.
Vor einigen Wochen hatte ich es mit einem Covid-19-Leugner zu tun, der glaubt, die Politik nehme die «Grippe» zum Anlass, eine Art Diktatur einzurichten, um die Unternehmer zu unterdrücken. Er verweigerte, die Maske zu tragen. In seinem «Für-sich-allein-Denken» schloss er sich denen an, die ähnlich denken. Ich kenne ihn gut und lud ihn zu einem Gespräch ein. Er schlug die Einladung aus. Wie konnte er bloss zur Überzeugung gelangen, Covid-19 sei das Argument, dem Einzelnen die Freiheit zugunsten einer möglichen Diktatur zu nehmen? Das war mir schleierhaft. Gerne hätte ich gewusst, wie er zu dieser Meinung gelangt war. Das Gespräch wäre eine gute Basis gewesen, um Tatsachen im Zusammenhang mit der Pandemie zu diskutieren. Es schien mir, es gebe genügend Beweise, dass dieses tödliche Virus die Welt verunsichert. Wofür geben die chemische Industrie und die Staaten Milliarden aus, um einen Impfstoff zu schaffen? Mir aber wäre es in erster Linie darum gegangen, von ihm zu hören, wie er zu seinem Denken gelangt ist und mit ihm dieses an Tatsachen zu überprüfen.
Das «Für-sich-allein-Denken» ist heute Mode. Aber es gibt keine Wahrheit, ohne einen Sach- oder Tatsachenbezug. Meinungen, Vorstellungen und Glauben sind keine Wirklichkeit. Sie repräsentieren nicht die Wahrheit. Der Begriff der Wirklichkeit enthält immer zwei Seiten: Einerseits die Realität und andererseits den Begriff für die Sache. Ein Stein ohne den Begriff ist zwar real, aber wirklich für den Menschen wird er erst durch die Benennung. Das moderne Denken klammert oft leichtsinnig aus, dass es Tatsachen gibt. Es rückt den Begriff ins Zentrum und vernachlässigt die reale Tatsache, einfacher gesagt, es geht von der Benennung aus und verharrt im Denken, Vorstellen oder Meinen.
Wenn meine Frau schmollte, versuchte ich mir ein Bild zu machen, was der Grund für ihr hartnäckiges Schweigen sei. Ich verharrte im «Für-mich-allein-Denken» und verfehlte prompt die Wirklichkeit, denn ohne das Gespräch mit meiner Frau konnte ich gar nicht wissen, woran sie litt. Erst die Frage und das Gespräch über ihren Schmerz brachte die Wahrheit zutage. Übertrage ich diese Einsicht auf das allgemeine Verhalten der Menschen, stelle ich fest, dass viele ihr Meinen und ihren Glauben höher einschätzen als die ihr zugeordnete Tatsache. Tatsachen auf den Grund zu gehen, ist oft schwierig. Ergo muss ich Nietzsche und Jaspers recht geben, dass ohne Kommunikation keine Wahrheit ist. «Die Wahrheit beginnt zu zweien!» soll mein Leitspruch für das Jahr 2021 sein.
* In «Jaspers. Stationen seines philosophischen Weges», Hrg. von Anton Hügli, Seite 144 zitiert in seinem Aufsatz «Jaspers in Basel …; Schwabe Verlag. Erscheint 2021.