Tanzende Gassen

Mittelalterliche Städte mit ihren engen, verwinkelten und unregelmässigen Gassen wirken pittoresk und laden zum Verweilen ein. Diesen «tanzenden Gassen» geht Benno Bruggisser in seinem Buch «Geplante Unregelmässigkeit» auf den Grund.

Benno Bruggisser reist gerne, dabei ziehen ihn die mittelalterlichen Städte besonders an. Und er fragte sich, warum er sich an einem Ort mit so vielen Häusern und engen, verwinkelten Gassen derart wohlfühlt. Er las darüber, studierte Stadtpläne und erkannte, dass es in allen europäischen mittelalterlichen Städten keine rechten Winkel gibt, dass die Strassen geschwungen und nicht gradlinig verlaufen und sich nicht im rechten Winkel kreuzen, auch die Häuser und Parzellen trapezförmig sind und keine rechtwinkligen Grundrisse aufweisen.

Pastrana, mittelalterliche Kleinstadt in Kastilien-La Mancha, Spanien. Foto: Ruth Vuilleumier

In der Fachliteratur suchte Bruggisser vergeblich nach einer Erklärung für seine Erkenntnis. Das reizte den Historiker, der auch Germanistik und Philosophie an der Universität in Zürich studiert hatte, sich nach Beendigung seiner 30-jährigen Lehrtätigkeit mit dem mittelalterlichen Städtebau intensiv auseinanderzusetzen, verbunden mit ausgedehnten Reisen. Dabei stellte er überall das gleiche Muster fest, den mittelalterlichen Stadtgrundrissen des 13. Jahrhunderts fehlt der rechte Winkel. Während sieben Jahren befasste er sich mit dem Phänomen der tanzenden Gassen, wie er sie nennt, und kam zur Überzeugung, dass es einen tieferen Grund dafür geben müsse, denn diese Bauformen lassen sich weder durch Vorgängerbauten noch durch die Topographie erklären.

Daraus entstand eine umfassende Studie, ein Buch, das sich sehr gut lesen lässt und spannend aufgebaut ist. Denn Bruggisser geht wie bei einem Indizienprozess vor, in Etappen, umsichtig und präzise auf verschiedene Seiten hin, und die Auflösung des Rätsels erfolgt am Schluss. Er setzt voraus, dass die mittelalterlichen Baumeister in ganz Europa ihr Metier beherrschten und im Städtebau absichtlich auf den rechten Winkel verzichteten. Ganz im Gegensatz zum Bau der Kathedralen und Klöster, die durchwegs auf dem rechten Winkel basieren. Also musste eine Absicht dahinterstecken.

Die mittelalterlichen Städte entstanden auf unterschiedliche Art, oft beruhten sie auf römischen Siedlungen oder entwickelten sich aus einem Marktflecken heraus. Häufig wurden sie auch aus wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Überlegungen gegründet. In detaillierten Porträts beschreibt der Autor die Geschichte und Besiedlung von vier geographisch weit auseinanderliegenden Städten: Das südfranzösische Uzès war ursprünglich eine römische Stadt; Zürich, als eine über Jahrhunderte gewachsene Stadt, war ebenfalls römischen Ursprungs; im norddeutschen Lübeck zog sich die Besiedelung nach der Stadtgründung über Jahrzehnte hin; das norditalienische Lodi wurde nach der Zerstörung der sieben Kilometer entfernten alten Stadt auf freiem Territorium 1158 neu aufgebaut.

Zürich, Neumarkt. Parzellenplan mit trapezförmigen Grundrissen, um 1300. Baugeschichtliches Archiv, Zürich.

Die Struktur der vier Städte, die der Autor persönlich vor Ort studiert hatte, wird mit zahlreichen Katasterplänen, Plänen zu Parzellen und Territorien belegt, auch mit Fotografien aus der Vogelperspektive sowie Aufnahmen der typisch geschwungenen Strassenverläufe. Die alten Städte zeigen sich heute sauber und romantisch, aber im Mittelalter waren die Strassen nicht gepflastert und stets schmutzig, Menschen und auch das Vieh hielten sich dort auf, eine Kanalisation fehlte, die Fäkalien wurden in Gruben und Ehgräben entsorgt, es muss gewaltig gestunken haben. Im dreizehnten Jahrhundert fehlten noch weitgehend Repräsentationsbauten, die schönen Ratshäuser entstanden erst zur Zeit der Renaissance. Die Häuser der Einwohner waren bescheiden, und doch gab es bereits um 1200 Geschlechtertürme adliger Familien in Norditalien, auch Wohntürme reicher Kaufleute, wie etwa in Zürich am Neumarkt.

Im letzten Kapitel bettet der Autor die mittelalterliche Städtebauperiode in das damals herrschende religiös-philosophisch begründete ästhetische Empfinden ein. Die mittelalterliche Ästhetik beruhte hauptsächlich auf der Ästhetik der griechischen Philosophen sowie frühchristlicher Kirchenlehrer. Die Bibel spricht von der göttlichen Ordnung, alles sei nach Mass, Zahl und Gewicht geordnet. Zwischen den Zahlen, den geometrischen Formen von Quadrat und Rechteck sowie den Proportionen bestand ein enger Zusammenhang. Sie bildeten die harmonischen Gesetze des christlichen Schönheitsideals. Nach diesen Gesetzen und Idealen schuf ein mittelalterlicher Baumeister ein sakrales Gebäude zur Ehre Gottes. Sogar das Baumaterial, die Steine, stellten symbolisch sakrale Bezüge her, entweder als Eckstein und Altarstein für Christus selbst oder als Fundament- und Mauersteine für die Heiligen und Propheten.

Die Vermessung einer Stadt mit Messstange und Messschnur. Umzeichnung von U. Mechmann nach einer Darstellung auf einem Deckengemälde in der Burgkapelle Schwarzrheindorf, Seccomalerei 1151/1156. Aus: Günther Binding/Norbert Nussbaum, Der mittelalterliche Baubetrieb nördlich der Alpen in zeitgenössischen Darstellungen, Darmstadt 1978.

Der mittelalterliche Mensch führte durch die tief empfundene Religiosität jener Zeit ein Leben in Demut und fürchtete nichts mehr als den Zorn Gottes. Begangene Sünden führten nicht nur zu individuellen Höllenstrafen im Jenseits, sondern zeigten sich auch unmittelbar in Katastrophen im Diesseits. Das brachte die Baumeister jener Zeit in ein Dilemma. Denn die in der Offenbarung beschriebene wohl proportionierte und mauerbewehrte steinerne Stadt, das heiliges Jerusalem, tangierte ihre Arbeitsweise.

Villard de Honnecourt, Fallender Hochmut und Demut, 1. Hälfte 13. Jahrhundert. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz.

Das heilige Jerusalem mochte die Ursache gewesen sein, dass die Städtebauer es nicht wagten, die dem Kirchenbau zugrundeliegenden Kriterien im Städtebau anzuwenden. Die Städte mussten zwar zum Schutz mit einer Mauer und wegen der Brandgefahr in Stein errichtet werden und kopierten so das himmlische Vorbild. Dies hätte in der Vorstellung jener Zeit als hochmütiges, sündhaftes Verhalten verstanden und den Zorn Gottes heraufbeschwören können, was man vermeiden wollte. So fanden die Städtebauer einen Ausweg und planten ihre Städte in einer unordentlichen Bauweise mit unregelmässigen Gassen und Parzellen – eine Architektur für die Menschen und nicht für das Lob Gottes.

Fotos aus dem Buch: rv

Benno Bruggisser, «Geplante Unregelmässigkeit – das Phänomen der tanzenden Gassen in mittelalterlichen Städten. Der hochmittelalterliche Städtebau im Spiegel historischer, religiöser, philosophischer und ästhetischer Aspekte». Books on Demand, Wettingen 2020. 63.- Fr. (+ 10.- Fr. Versandkostenanteil)
ISBN: 978-3-7528-9583-4.

Erhältlich bei: Benno Bruggisser, Lägernstr. 5, 5430 Wettingen, Tel. 056 427 07 05 oder
benno.bruggisser@bluewin.ch

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