StartseiteMagazinKulturEin langer Weg in eine neue Heimat

Ein langer Weg in eine neue Heimat

Das sudanesische Mädchen Bakhita wird aus ihrem Dorf in Darfur entführt und in die Sklaverei verkauft. In ihrem gleichnamigen Roman schildert Véronique Olmi das aussergewöhnliche Leben dieser Frau.

Von der Welt ausserhalb ihres Dorfes weiss das kleine Mädchen nichts. In ihrer Familie fühlt sie sich behütet, die Dorfgemeinschaft, in der ihr Vater einen wichtigen Platz einnimmt, hält zusammen. Dann wird das Dorf überfallen, viele Hütten werden niedergebrannt, und irgendwann später wird die Kleine, sieben Jahre ist sie da, von brutalen unbekannten Männern entführt und versklavt.

Nun hat sie alles verloren: ihre Wurzeln, ihre Heimat, die Geborgenheit ihrer Familie, ihre Geschwister, ihre Zwillingsschwester, mit der sie bis dahin alles geteilt hat. Mit der Zeit vergisst sie ihren Namen, denn der wurde nur selten gebraucht, sie war «Schwester» oder «Tochter», wenn sie nicht mit einem Kose- oder Spitznamen gerufen wurde. Sie spricht auch nur den Dialekt ihres Dorfes. Von jetzt an ist sie gezwungen, mit Menschen aus anderen Regionen ein Stück des Wegs zu gehen. Ihre Muttersprache spricht niemand, sie wird immer wieder neu lernen müssen, sich auszudrücken, ohne sicher sein zu können, dass man sie versteht.

Aus einer abgeschiedenen Welt in der Savanne

Nach einiger Zeit kommt der Moment, dass sie Bakhita, «die Glückliche», genannt wird – wohlgemerkt: von den Arabisch sprechenden Sklavenhändlern. Diese Bakhita hat wirklich gelebt. Sie wurde 1869 in der Region Olgossa in Darfur / Sudan geboren und starb 1947 als Madre Gioseffa Margherita Fortunata Maria Bakhita im Kloster der Canossianerinnen im venezianischen Schio. Ihr Schicksal erzählt Véronique Olmi und fesselt damit die Lesenden ungemein. Wir wissen von den vielen Sklaven, die von Afrika aus nach Amerika verschifft wurden. Vom Menschenhandel in Ostafrika spricht man weniger. Er war genauso menschenverachtend und grausam. Deshalb berührt Bakhitas Geschichte zutiefst.

Für Kinder wie Bakhita sind die Qualen der Märsche durch die Wüste, die Peinigungen der Sklaventreiber und die Demütigungen, als Sklavin ihrer Herrin oder ihrem Herrn zu Diensten zu sein, schwer zu ertragen – und für uns Lesende ebenfalls. Kritiker haben der Autorin vorgeworfen, ihr Roman sei zu sentimental. Selbstverständlich spricht Véronique Olmi mit ihrer Erzählung unsere Gefühle an, aber Kitsch findet sich nirgendwo. – Menschlichkeit, die Folie, auf der sich dieser Roman entwickelt, scheint in Mitgefühl und in vernünftigem Handeln auf.

Sklavenhandel – ein schmutziges Geschäft

Nachdem Bakhita zuerst in einem dunklen Raum eingesperrt ist, wird sie mit anderen grösseren und kleineren Kindern durch die Steppe geführt, von Station zu Station. Unterwegs begegnet sie dem Mädchen Binah; für kurze Zeit bleiben die beiden als Freundinnen zusammen. Bakhita wird auf verschiedenen Märkten verkauft, muss vor allem Schmutzarbeiten erledigen. Sie gerät in einen Haushalt mit sehr launischen jungen Damen, die sie einmal gut behandeln und ein andermal derart verprügeln, dass Bakhita mehrere Monate krank ist; von da an fällt ihr das Laufen nicht mehr ganz leicht.

Zuletzt kommt sie in den Haushalt des italienischen Konsuls in Khartum. Die grosse Stadt macht ihr Angst, alles ist noch fremder als zuvor. Aber zum ersten Mal wird sie als Mensch behandelt, als Heranwachsende. Sie lebt in einem sauberen Haus, wird nach ihrer Ankunft gewaschen, was sie noch nie erlebt hat, seit sie entführt wurde. Der Konsul, Callisto Legnani, interessiert sich für ihre Herkunft, und Bakhita wird bewusst, dass sie darüber überhaupt nichts sagen kann, dass sie ihren Namen nicht weiss, auch nicht den ihres Vaters oder ihres Dorfes. Der Konsul versucht auf einem ‹Blatt mit Linien› (einer Landkarte) herauszufinden, woher Bakhita kommt und welchen Weg sie gezwungen war zu gehen.

Eine neue Perspektive: Italien

Der Krieg der Türken gegen den Mahdi zwingen den Konsul und seine Familie, nach Italien zurückzukehren – und Bakhita darf mit, darf zusammen mit dieser anständigen Familie in das sagenhafte Land, von dessen Sprache sie inzwischen ein paar Brocken gelernt hat.

Italien bringt eine Menge neue Verwirrungen, nicht alle leben dort im Paradies. Bei der Familie des Konsuls kann sie nicht bleiben, sie wird «herumgereicht», bis sie von Maria Michieli in den Dienst genommen wird. Zwar wird sie von nun an nie mehr so brutal behandelt wie im Sudan, aber Bakhita ist zuweilen verstört, wie die Leute auf sie reagieren, manche haben Angst, manche lehnen sie offen oder – häufiger – versteckt ab.

Der Glauben als unverlierbare Heimat

Bakhita wiederum lernt nur langsam, was in dieser fremden Welt von ihr erwartet wird. Ihre grösste Freude ist die Betreuung der kleinen Tochter der Signora, Mimmina genannt. Durch sie kommt Bakhita in Berührung mit dem katholischen Glauben, der ihr die verlorene Heimat ersetzen wird. Es ist noch ein langer Weg, der sie dahin führt, dass sie ins Kloster der Canossianerinnen in Venedig eintritt, schreiben und lesen lernt und in der Klosterküche ihren Platz findet. Eine wichtige Etappe war eine juristische Entscheidung: Am 29.11.1889 erklärte ein italienisches Gericht Bakhita frei von der Sklaverei. – De jure sei im Sudan schon seit Bakhitas Kindheit die Sklaverei abgeschafft. Nun erhält sie das Recht, selbständig über ihr Leben zu bestimmen, – und wird Nonne.

Die Autorin beschreibt Bakhitas Leben streng chronologisch. Sie schreibt sehr nüchtern, als kluge Beobachterin, oft aus der Perspektive von Bakhita. Durch diese Zurückhaltung gewinnt der Roman an Authentizität. Bakhita wird schliesslich von Johannes Paul II. heiliggesprochen, als erste Afrikanerin.

Véronique Olmi wurde 1962 in Nizza geboren und lebt heute mit ihren zwei Kindern in Paris. In Frankreich erhielt sie für ihre Arbeit zahlreiche Preise. Seit 1990 hat die ausgebildete Schauspielerin zwölf Theaterstücke verfasst; am Anfang stand sie bei deren Aufführung auch selbst auf der Bühne bzw. führte Regie. Ihre Theaterstücke wurden in viele Sprachen übersetzt; einige Stücke liegen auch auf Deutsch vor und wurden in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgeführt.

Véronique Olmi: Bakhita. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Verlag Hoffmann und Campe, 2021 als Taschenbuch erschienen. 416 Seiten. ISBN: 978-3-455-00949-1

Titelbild: Sonnenaufgang in der Savanne / © Ulla Trampert  / pixelio.de

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1 Kommentar

  1. habe ich mich doch an diesen Namen erinnert.. die Heiligsprechung, eine Notiz. Die Buch-besprechung ist sehr «amächelig». Vielen herzlichen Dank.
    Klara Jakober

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