Jede Sprache besitzt eine Geschichte und Geheimnisse und manchmal überraschende Eigenarten. Der «Atlas der verlorenen Sprachen» von Rita Mielke öffnet ein Fenster auf unbekannte Welten.
Der «Atlas der verlorenen Sprachen» ist ein Buch voller Abenteuergeschichten und detektivischer Spurensuche, keine trockene Abhandlung. Er öffnet den Blick auf fünfzig unterschiedliche Sprachen aus allen Kontinenten, die teilweise ausgestorben oder noch von wenigen Menschen gesprochen, manchmal gepfiffen, geschrieben oder getrommelt werden. Jedem Kapitel ist eine Karte mit dem Herkunftsort der Sprache sowie Kurzinformationen vorangestellt. Die Illustrationen stammen von der Grafikerin und Buchgestalterin Hanna Zeckau.
Schriftzeichen auf historischen Steinfunden der Pikten.
Englisch, Chinesisch, Hindi und Spanisch sind heute die weltweit am meisten verbreiteten Sprachen, sie lassen sich geografisch und kulturell klar einordnen. Doch je kleiner der Kreis einer Sprache ist, desto fremder erscheint er uns. Wer kennt das litauische Karaimisch, das noch weniger als achtzig Personen sprechen oder das ausgestorbene schriftlose Ubychisch aus dem Nordwestkaukasus, das über vierundachtzig Reibe-, Knarr- und Zischlaute verfügte, aber kein Wort für lieben kannte. Unter den geheimnisvollen Sondersprachen wird auch dem Kauderwelsch ein Kapitel gewidmet.
Rita Mielke präsentiert die Sprachen im kulturellen und historischen Kontext eines Volkes. Oft ist dessen Herkunft unklar, wie zum Beispiel die Herkunft der Pikten. Sie lebten in Schottland und nannten sich selbst Cruithne nach ihrem legendären Stammvater. Mit der Reichsgründung Schottlands im Jahr 843 n. Chr. verschwanden die Pikten, die gälische Kultur hatte obsiegt.
Der heute gebräuchliche Name Pikten wurde ihnen von den Römern verliehen und leitet sich aus dem Lateinischen picti, die Bemalten, ab. Ob die Pikten tatsächlich bemalt, bzw. am ganzen Körper tätowiert waren, ist nicht geklärt. Doch diese Vorstellung beflügelte die Fantasie der Künstler vom 16. Jahrhundert bis heute mit «Asterix bei den Pikten» 2013.
Der Begriff picti könnte sich auch auf die Bildsteine beziehen, die häufig im Norden und Osten Schottlands zu finden sind. Die Bilder auf den Steinen und Stelen zeigen abstrakte Symbole, stilisierte Tiergestalten und Objekte und lassen Rückschlüsse auf Kriegswaffen, Reitkultur, Handwerk und Landwirtschaft zu. Die dargestellten Harfen in unterschiedlicher Grösse weisen zudem auf eine ausgeprägte Sing- und Erzähltradition. Neben den Bildsteinen bedienten sich die Pikten vermutlich auch der Ogham-Schrift, einer ursprünglich irischen Runenschrift, die bislang nicht entschlüsselt werden konnte.
Sprechende Webkunst: Die Chachapoya in Peru sind berühmt für ihre textile Kunstfertigkeit und für die in ihren Soffen erzählten Geschichten.
Auch der Ursprung des prähistorischen Andenvolkes der Chachapoya in Peru, das von den Inkas «Wolkenmenschen» oder «Nebelkrieger» genannt wurde, ist bis heute ungeklärt. Die spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert bezeichneten die Chachapoya als die «weissesten und anmutigsten Menschen unter allen Indianern». Die Frage, ob sie wirklich Nachfahren iberisch-keltischer Seefahrer sind, die sich lange vor der Entdeckung Amerikas in Peru niederliessen, ist nicht beantwortet. Bekannt sind sie für ihre Grabfiguren, Mumien und Bautradition, doch ihre Ursprache ist unbekannt. Mitte des 19. Jahrhunderts stiessen Forscher beim Quechua auf Relikte der Chachapoya Sprache. Diese schriftlose Sprache ist heute nahezu ausgestorben, auch weil sich die Menschen dafür schämen; aber bunte Webarbeiten erzählen die Geschichten der «Wolkenmenschen».
Ein «Duftwort» der Maniq kann unterschiedliche Bedeutung haben.
Dass die Sprache auch auf der Unterscheidung von Düften beruhen kann, weiss man dank der Maniq. Die Maniq sind nomadisierende Jäger und Sammler im Regenwald Südthailands und im Grenzgebiet zu Malaysia, es leben noch rund dreihundert. Wie riecht die Sonne, der Rauch eines Feuers oder die Pilze? In ihrer Sprache beschreibt ein abstrakter Begriff den Geruch unterschiedlichster Dinge und verbindet damit eine Emotion, wie etwa gefährlich, angenehm oder aufregend. Mit ihrem ausgeprägten Geruchssinn unterscheiden sie bei der Nahrungssuche Essbares von Ungeniessbarem, bei Krankheiten setzen sie auf die Aromen von Wildpflanzen und Kräutern. Die Maniq leben in archaischen, clanartigen Familienbünden und die Vorstellung von Eigentum ist ihnen fremd, Worte für danke oder Krieg fehlen, ebenso Zahlwörter.
Rita Mielke beruft sich in ihrem Atlas auf Wilhelm von Humboldt, den preussischen Gelehrten des 19. Jahrhunderts, der zusammen mit seinem Bruder Alexander Sprachmaterial aus aller Welt gesammelt hatte. Zudem erwähnt die Autorin, dass auch «fromme Missionare, grausame Kolonialherren, kühne Forscherinnen und mutige Sprachenthusiasten» das Wissen von Sprachen aus den hintersten Winkeln der Welt zusammengetragen hätten.
Moderne Sprachforscher gehen heute von weltweit mehr als 7000 gesprochenen oder dokumentierten Sprachen aus. Während in Europa noch etwa 200 Sprachen beheimatet sind, verzeichnen Afrika mit 2000, Papua-Neuguinea mit 800 und Indonesien mit mehr als 700 den grössten Sprachenreichtum, aber Tausende gingen im Prozess der Zivilisation verloren.
Es gibt jedoch auch Entwicklungen, die zeigen, dass Sprachen wieder auferstehen und erstarken, etwa jene der Nuu-cha-Nulth hoch im Norden Kanadas oder der Wangkangurru im Süden Australiens. Deren Gesänge, Mythen und Ausdruckweisen werden dank der deutschen Sprachforscherin Luise Hercus in engem Kontakt mit den Ureinwohnern seit den 1950er Jahren erforscht und leben wieder auf.
Bilder: Die Illustrationen von Hanna Zeckau sind dem Buch entnommen.
Rita Mielke, Hanna Zeckau (Illustrationen), Atlas der verlorenen Sprachen, Duden Verlag, Bibliographisches Institut, Berlin, 2020. ISBN 978-3-411-70984-7