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Sich entschuldigen

Einfach ist es nicht, sich zu entschuldigen. Wobei ich schon hinter diese gängige Formulierung ein Fragezeichen setzen möchte. Der Sinn der Sache ist doch, dass ich, im Bewusstsein, etwas Unrechtes begangen und dadurch Schuld auf mich geladen zu haben, den oder die Betroffenen bitte, die Last der Schuld von mir zu nehmen. Andere müssen mich also entschuldigen, selbst kann ich das nicht!

Meine erste Erfahrung mit dem sich entschuldigen habe ich als Primarschülerin der Unterstufe gemacht. An einem Mittwochnachmittag durften wir mit unserer Klasse im Wald ein spannendes Spiel veranstalten. Wir wurden in Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe hatte zu warten, bis sie kontaktiert wurde und konnte dann die nächste Gruppe, die in einer gewissen Distanz versammelt war, ansprechen. Es gab Verzögerungen, meiner Gruppe wurde das Warten zu langweilig, wir scherten aus. Prompt waren wir nicht am Platz, als die Reihe zum Handeln an uns war. Dem jungen Lehrer, der das Spiel begleitete, kam das zu Ohren. Ohne viel Federlesen schickte er uns mitten am Nachmittag nach Hause. Eine solche Reaktion hatten wir nicht erwartet und schlichen uns wie begossene Pudel davon.

Beim Abendessen erzählte ich meinen Eltern den ganzen Vorfall. Sie befanden, ich müsste mich bei meinem Lehrer für mein undiszipliniertes Verhalten entschuldigen. Das passte mir gar nicht. Meine Ausrede war, der Lehrer sei viel zu jung, er wisse sicher gar nicht, was sich entschuldigen bedeute. Meine Eltern liessen nicht locker. Jeden Tag wurde ich gefragt, ob ich mich jetzt entschuldigt hätte.

Plötzlich ergab sich eine Gelegenheit. Ich musste am Lehrerpult ein Heft vorzeigen, war allein und murmelte, dass ich mich wegen des letzten Mittwochs entschuldigen möchte. Und was antwortete der «viel zu junge Lehrer»? «Siehst Du», sagte er, «man muss sich auch einmal zusammennehmen können». Und damit waren mein Fehlverhalten und mein Missbehagen aus der Welt geschafft!

Wir haben in unserem Lande verschiedene offizielle Entschuldigungen erlebt. Bundesrätin Simonetta Sommaruga entschuldigte sich 2013 im Namen des Bundesrates für das grosse Leid, das in unserem Lande Verdingkindern und Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen angetan worden war.

Letztes Jahr veröffentlichte der Bundesrat einen offiziellen Bericht über illegale Adoptionen aus Sri Lanka. Karin Keller-Sutter entschuldigte sich im Namen des Bundesrates, dass gewichtige Hinweise aus der Bevölkerung von den Behörden zu lange nicht ernst genommen worden seien.

Für mich am eindrücklichsten waren damals die Ausführungen des heute achtzigjährigen Bundesrates Kaspar Villiger. Er sprach zum 7. Mai 1995, zum 50. Jahrestag seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Er sprach über das Verhalten der Schweiz gegenüber den von den Nationalsozialisten verfolgten Juden, auch über den Judenstempel. «Der Bundesrat bedauert das zutiefst, und er entschuldigt sich dafür, im Wissen darum, dass solches Versagen letztlich unentschuldbar ist», waren seine Worte. Der letzte Teil des Satzes prägte sich mir ein und begleitet mich bis heute. Denn die verbreitete Meinung, grosses oder kleines Unrecht sei in jedem Fall mit einem schnellen «Sorry» zu bereinigen, teile ich nicht.

Heute steht die Forderung im Raume, der Bundesrat müsse sich für die verspätete Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz entschuldigen. Aber am Bundesrat lag es gar nicht. Er ist nicht der Zuchtmeister der Nation. Er hatte dem Parlament 1957 eine befürwortende Botschaft zugeleitet. Die Ablehnung erfolgte in der Volksabstimmung von 1959. Müssten sich diejenigen entschuldigen, die damals Nein gestimmt haben? Die eindrückliche Anzahl von über 600`000 Männern war das. Zu bedenken wäre allerdings, dass eine grosse Zahl in den Jahren bis 1971 einen Gesinnungswandel durchmachte. Darum ergab sich dann ein Ja der Stimmbürger zum Frauenstimmrecht. Diese «Wendehälse» wären natürlich von der Entschuldigungspflicht auszunehmen!

Ungeklärt ist auch die Frage, ob Stimmbürgerinnen und Stimmbürger Schuld auf sich laden können, wenn sie zu einem Thema nach «besten Wissen und Gewissen» ihre Stimme abgeben. Mir scheint, es wird zu kompliziert. Und die Forderung geht ja an die Adresse des Bundesrates. Wie kommen wir aus dem Fragenlabyrinth wieder heraus?

Gibt es einen Vorschlag zur Güte? Könnten Frauen, die sich heute noch durch das «Unrecht» der späten Einführung des Frauenstimmrechts gekränkt fühlen, ihrerseits einen versöhnten Schlussstrich ziehen? Im Wissen darum, dass das «Unrecht» unterdessen aus der Welt geschafft worden ist? Und im Wissen darum, dass der Bundesrat aktuell zum Wohle unseres Landes ganz andere Themen und Situationen zu meistern hat?

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5 Kommentare

  1. Einmal mehr: Sich entschuldigen geht weder sprachlich noch ethisch. Sich selber kann man nicht entschulden. Vielmehr wäre sinnvoll: Es tut mir leid, ich bitte um Entschuldigung.
    Schade, dass selbst Bundesräte in solch bedeutenden Situationen noch immer nicht «um Entschuldigung bitten», sondern fälschlicherweise «sich entschuldigen». Sehr geehrte Frau Stamm! Mich hätte gefreut, so sie ihren Eingangssatz «Andere müssen mich also entschuldigen, selbst kann ich das nicht!» inhaltlich und sprachlich konsequent weiter geführt hätten… Selbst wenn die umgangssprachliche Anwendung «Ich entschuldige mich!» alltäglich ist. Ein Ueberdenken von Schuld und Sühne lohnt sich; Sorry!

  2. Frau Stamm, Sie schreiben in Ihrem Artikel: «Wir haben in unserem Lande verschiedene offizielle Entschuldigungen erlebt. Bundesrätin Simonetta Sommaruga entschuldigte sich 2013 im Namen des Bundesrates für das grosse Leid, das in unserem Lande Verdingkindern und Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen angetan worden war.» Damit tappen selber gerade in die von Ihnen erörterte Falle. Frau Sommaruga entschuldigte sich eben gerade nicht. Sie hat (wie es sich gehört) um Entschuldigung gebeten.

  3. Zum Entschuldigen gehört gezwungenermassen das Verzeihen. Auch für mich persönlich war Kaspar Villigers Rede damals wertvoll. Zum Verzeihen möchte ich folgende Geschichte erzählen. Mein Vater, im 2. Weltkrieg Präsident der jüdischen Gemeinde St. Gallen und stark mit den Geflüchteten vor Hitler involviert, war auch Soldat in der Armee. Als General Guisan sich in der ganzen Schweiz verabschiedete, durfte ich mich als 8-jährige in St. Galler Tracht mit einem Blumenstrauss auf Französisch bei ihm bedanken! Ein erstes Highlight in meinem jungen Leben und unvergesslich.

  4. Die viel zu späte Einführung des Frauen-Stimm- und Wahlrechts bleibt ein Schandfleck in unserer Geschichte. Da hilft jetzt eine Entschuldigung auch nicht mehr viel. Die Schweiz hat ihre Geschichte sonst eher überpenibel aufgearbeitet und sich eher zuviel entschuldigt und auch bezahlt. Man hätte teilweise meinen können, wir seien Schuld an den Kriegsverbrechen der Deutschen und dem Holocaust, wie sich die Schweiz entschuldigt hat. Die Milliardenzahlungen für sog. namenlose Konten wurden bis heute nicht mal zur Hälfte eingefordert und der Restbetrag geht auf das Konto des World Jewish Congress. Die Aufgabe des Bankgeheimnisses, ohne jegliche Reziprozitätsforderungen, war ein weiterer Akt aufgrund von Druck, vorallem der Amis, einzuknicken. Die Angelsachsen selber sind die Hauptprofiteure unseres «selbstreinigenden Mea Culpa» und GB allein betreibt 20 unregulierte Offshoreplätze. Auch von der EU kam nie Druck, als sie noch Mitglied waren. Weltweit gibt es weiterhin ca. 70 unregulierte Offshorecentren, die schon lange all das tun, was die Schweiz vor Jahrzehnten mal gemacht hat. Wir können uns auch weiter für jede kleine Ungerechtigkeit selber hauen und aus der Schweiz einen «unbefleckten Jungfrau Maria Staat» machen. Stichwort: KVI usw. Nur wird die Welt dadurch kein Mü besser und andere viel undurchsichtigere Mächte und Player reiben sich ab der Naivität der Schweizer die Hände. Deutschland hat sich kaum je genügend für die Kriegsverbrechen entschuldigt und entschädigt. Von den Kolonialmächten und den arroganten Amis ganz zu schweigen, welche sich für die enorme Ausbeutung, Ermordung von Indigenen und die Versklavung von Menschen nie richtig entschuldigt haben. Entschädigt wurde sowieso nie!

  5. Ja, ich teile die Ansicht des obgenannten Herren Andreas. Die Schweiz ist auf jeden Fall Weltmeister, wenn es um Klotz, sprich Geld geht. Oft hege ich den Verdacht, dass es sich um mangelndes Selbstvertrauen handelt, statt Position zu beziehen. Das sieht man ja in den tagtäglichen Medien zur Genüge. Darüber könnte man ein Buch schreiben.

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