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Vom Leben der Menschen

Bildserien, Fotoreportagen und Porträts umfasst die Retrospektive «Pia Zanetti, Fotografin» in der Fotostiftung Schweiz: Mehr als ein halbes Jahrhundert Fotos aus der halben Welt.

Sie schauen oft direkt in die Kamera, die Kinder, Frauen und Männer auf Pia Zanettis Fotografien, aber die Fotografin scheinen sie nicht wahrzunehmen, ihre Aufmerksamkeit liegt bei den Umständen, in denen Zanetti bei ihrer Arbeit als Fotojournalistin auf sie traf. Die britische Frau, die zwischen den Ärmeln von riesigen Polizisten hervorlinst, wartend auf den Staatsgast Kossygin. Der Bub im Vorort von Neapel, altklug und skeptisch. Pia Zanettis Fotos erzählen vom Leben, dem guten und dem gefährlichen, dem benachteiligten und dem gelassenen. Und vor allem: Sie erzählen.

Warten auf den Staatsgast aus der Sowjetunion. London, England, 1967 © Pia Zanetti

Die 77jährige Fotografin hatte in den reisefreien Monaten ihr Archiv gesichtet, eine Auswahl getroffen und nun zusammen mit der Kuratorin Teresa Gruber und dem Direktor der Fotostiftung Schweiz, Peter Pfrunder, ihr Berufsleben in eine Ausstellung und ein Künstlerbuch gepackt. Wer mit passablem Bildgedächtnis durch die Räume wandert, trifft mehr als ein ikonisches Bild aus den letzten 60 Jahren. Das berührende Porträt der Grande Dame Hollywoods, Bette Davis, das graue Schiff, Bug voran auf dem ausgetrockneten Aralsee, eine riesige Traurigkeit, oder der tanzende Basler Halbstarke bei der Herbstmesse zum Rock’n Roll der «Hurricans». Dieses Foto eröffnet die Ausstellung und ist eins der ersten, die Pia Zanetti – damals siebzehn und noch kaum in der Lehre – bis heute gelten lässt. Als sie, Jahre später, den Auftrag hatte, von Bette Davis, die für eine Preisverleihung in Norditalien weilte, ein Porträt zu machen, musste sie drei Stunden Geduld haben, bis die Diva, so gekleidet und geschminkt war, wie sie auftreten wollte. Das Bild ist umwerfend.

Bette Davis, Cernobbio, Italien, 1988 © Pia Zanetti

Die Ausstellung beschert ein riesiges Panorama an Lebensentwürfen und politischen Systemen – von der Apartheid in Südafrika über Straßenszenen in New York oder der Psychiatrie in Nicaragua bis zu jungen Frauen im Selbstverteidigungskurs (1998) oder auch Backstage bei Haute Couture Modeschauen in Rom (1960). Keine Chronologie, aber viel Welt in ihren Zusammenhängen.

Pia Zanetti wollte nie etwas anderes werden als Fotografin – sie ist es heute noch mit Überzeugung und Lust am Schaffen. Mit freudiger Emotion reagiert sie, als ich sie nach ihrem Fotografen-Sohn frage. Es sei «extrem schön!» und beglücke sie, dass ihre Arbeit weitergeführt werde. Klar, dass keine anderen autorisierten Porträts von ihr zu haben sind, als jene, die Luca Zanetti fotografierte.

Im Tanzpavillon bei den Hurricans auf der Basler Messe, 1960 © Pia Zanetti

Nach der Handelsschule und mehreren Absagen auf ihrer Lehrstellensuche konnte sie bei ihrem 15 Jahre älteren Bruder, dem Berufsfotografen Olivio Fontana, die Ausbildung beginnen und berufsbegleitend die Kunstgewerbeschule besuchen.

Seither fotografiert sie auf der ganzen Welt, in Kriegs- und Krisengebieten, aber auch in Fabriken oder auf belebten Strassen. Ihre mutmasslich erste Reportage in Farbe entstand in den Strassen von New York City. Fasziniert von der Grossstadt, sog Pia Zanetti auf einer der frühen Reisen zusammen mit ihrem Mann, dem Journalisten Gerardo Zanetti, das pralle Leben der Gegensätze mit und ohne Linse vor den Augen in sich auf. Diese Bildserie ist erstmals zu sehen, denn das war keine Auftragsarbeit, also nie publiziert in einem der Hochglanzmagazine oder einer der Wochenzeitschriften oder der Tagespresse mit Bildstrecken, für die sie damals mit Gerardo, später mit anderen Schreibenden unterwegs war.

Straßenszene in New York, USA, 1963. © Pia Zanetti

In einer Vitrine liegt eine Auswahl an gedruckten Medien, für die sie arbeitete. Da ist die Story über den jungen Peter Bichsel fürs Magazin, dessen Porträt aufs Titelblatt kam. Oder die Drogengeschichte aus Brasilien, oder Teile der Serie Europäer wie du und ich. Einige der Reportagen lassen sich nachlesen. Als die goldenen Zeiten der grossen Fotostrecken mit langen Texten vorbei waren – Verlage sparen jeweils zuerst bei ihren freien Mitarbeitern – kamen die Aufträge vermehrt von Unternehmungen, beispielsweise von der Winterthur-Versicherung für ihre Jugendzeitschrift Hangar 21, oder im Fall der engagierten Pia Zanetti von NGOs.

Pozzuoli bei Neapel, Italien, 1970, © Pia Zanetti

Die Reisen nach Nicaragua, in den Südsudan, nach Nordirland zum Orange Day forderten viel Vorbereitung und im Land selbst Vorsicht: Es war lebensgefährlich. Die absolute Horrornacht erinnert sie freilich 1999 in Moskau: Unterwegs nach Usbekistan wurde sie festgenommen und eingekerkert, weil ein Visum fehlte. In der Einzelzelle war es eiskalt, eine Neonröhre flimmerte, und ab und zu schauten «Flintenweiber» vorbei. Die Reportage am Aralsee konnte sie – bei eisigem Wetter mit klammen Fingern am Auslöser – jedoch realisieren: «Das war eine reiche Gegend, die Leute lebten vom Fischfang und versorgten die ganze Sowjetunion mit Fisch.» Aber für den Aufbau einer intensivierten Baumwollindustrie mit Feldern in der Wüste sperrte man dem riesigen See die Zuflüsse und legte ihn bis auf einen winzigen Rest trocken. Den Fischerfamilien wurde «die Arbeit unter den Füssen» weggezogen, ihre Boote blieben irgendwo auf der Sand- und Schlickfläche liegen.

Fischer in Kapstadt, Südafrika, 1968 © Pia Zanetti

Tiefe Spuren nicht nur auf Fotopapier hinterliess die Reise nach Südafrika 1968: Es war «der Schock des Jahrhunderts, wie es da zu und her ging!» Noch heute spürt Pia Zanetti die Wut: Der Fels am Strand – nur für Weisse, das Spital mit den zwei Eingängen, die Biergärten für Weiße und die Biertankstellen für Schwarze, die gallonenweise ein sehr schwach alkoholisiertes Bantu-Bier einschütten mussten, wollten sie nur ein bisschen Entspannung erfahren – das Pissoir war gleich neben dem Verkaufstresen. Schwierig war auch, als Weiße überhaupt die Bewilligungen zu bekommen, um nach Soweto zu können. Und schliesslich – fasst Pia Zanetti zusammen – war die Schweizer Politik damals «grauslich».

Besondere Gefühle ergreifen sie bei der Reportage mit Nina 1997, Zanettis Adoptivkind aus Vietnam auf der Suche nach den Wurzeln. Die Fotos sprechen von dieser erfüllenden und schwierigen Arbeit. Die Kritik, sie könne ja nicht mal scharf stellen, hätte auch hier gepasst: Pia Zanetti ist eine Meisterin im Umgang mit der Unschärfe, sei es um auf das Besondere im Bild zu weisen, sei es, um die Bewegung, das Tempo, ja, auch die Leidenschaft des Objekts festzuhalten und damit die Geschichte übers Einzelbild hinaus zu erzählen.

Max Frisch, Zürich 1967 © Pia Zanetti

Anfangs als Tandem für Bild und Text, arbeitete das Ehepaar, als Kinder (1969, 1971, 1972) kamen im Turnus: Während der eine im Tessin Familienarbeit leistete, ging die andere auf Reportage. Bei einem Gang durch ihr Berufsleben in der Fotostiftung weist Pia Zanetti da und dort auf Lieblinge hin, beispielsweise die Prozessionsfigur in Nicaragua: auf dem Rumpf eines Kleinflugzeugs originalgetreu aus Papier maché steht eine Maria im blauen Schleier, das ganze samt Tragestangen bereit für die nächste Prozession. Oder die Bildstrecken mit Max Frisch, einmal in Rom, einmal mit Friedrich Dürrenmatt bei der Gruppe-47-Tagung. Was auffällt: Dieser Fotografin begegnete Frisch freundlich und entspannt – weit weg ist der bekannte missmutige Zug um den Mund.

Titelbild: Pia Zanetti, 2021 © Luca ZanettI
bis 24. Mai
Weitere Angaben zu Öffnungszeiten und Veranstaltungen der Ausstellung: Fotostiftung Schweiz Pia Zanetti
Die Publikation Pia Zanetti. Fotografin, Verlag Scheidegger & Spiess,  ist in der Ausstellung erhältlich, im Buchhandel zurzeit vergriffen.
Homepage von Pia Zanetti

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