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Massliebchen blühen schon

Die Wintertage scheinen vorbei zu sein. Beim letzten Schnee, der die Natur noch etwas zurück band, haben sich die Massliebchen vorbereitet, um bescheiden ihren weissen Blütenrand zu öffnen. Sie erweisen sich als äusserst robust, aber auch als anspruchslos. Und schon locken sie Insekten, Bienen und Hummeln an. Diese lieblichen kleinen Blümchen, die auf dem noch kargen Grün nicht zu übersehen sind, haben im Laufe der Zeit unterschiedliche Namen wie Gänseblümchen, Tausendschön, Sonnenauge, Margritli, Müelibluemli erhalten. Carl von Linné, der ein Werk zur Bestimmung der Pflanzenarten geschrieben hat, gab ihm die lateinische Bezeichnung «Bellis perennis», was schön und ausdauernd bedeutet. Ich bin kein Pflanzenkundiger, aber diese kleine Blüte erfreut mich jedes Frühjahr von neuem und manchmal nehme ich bewusst Abschied, wenn der Winter naht.

Ich möchte das Massliebchen als Metapher für das Leben und Wirken des Menschen betrachten. Es ist reizvoll, über diese kleine Blume zu meditieren, weil sie ein Verbote des Erwachens der Natur, des neuen Lebens ist und Heilkraft in sich hat. Ich recherchiere im Internet, was Menschen dieser Blume verdanken. Der Kräuterpfarrer Künzle ist der Meinung, man solle dem Tee für Kinder eine Prise Massliebchen beimischen. Sie werde den Kindern auf die Beine helfen. Ich lese, die Blume schaffe gute Laune. Sie enthalte viele Heil- und Wirkstoffe. Sie rege den Stoffwechsel an. Bei Hautkrankheiten finde sie Anwendung, helfe bei schmerzhaften, ausbleibenden Regelblutungen, aber auch bei Kopfschmerzen, Schwindelanfällen und Schlaflosigkeit. Johann Künzle (1857-1945) hatte ein grosses «Kräuter Heilbuch» geschrieben, das bei uns zu Hause herumlag. Darin blätterte ich als Knabe oft. Mit einer ähnlichen Blüte wie das Massliebchen zieren sich die Kamille und die Ringelblume.

Benenne ich das Massliebchen als eine Metapher für den Menschen, weist es auf das stille und zähe Wirken hin. Ich nenne es auch Mutterblümchen. Nicht das laute Schaffen hat den grössten Einfluss auf das Leben. Es sind oft leise schaffende Hände, die Grosses bewirken. Die Kraft liegt vielmals im Zusammenwirken der Vielen, die still, hartnäckig und mit grosser Hingabe ihre Pflicht erfüllen. «Das Winzige, es zeigt einen Weg, es bahnt einen Weg, aber mehr nicht.»* Das beobachte ich manchmal in einer Gaststube, wo ein kleines, frisches Blumenkränzchen auf dem Tisch anzeigt, dass das Detail gepflegt wird und die Sorgfalt der Gastgeber beweist. Stimmt der Gruß mit den Blumen überein, weiss ich, dass ich im richtigen Haus zur Mahlzeit eingekehrt bin.

Als ich an einem Morgen nach der Schneeschmelze einer Wiese entlang ging und die Margritli betrachtete, die gerade ihre Körbchen entfalteten, auf die ein erster wärmender Sonnenstrahl fiel, dachte ich an das Wirken des Kleinen im grossen Weltmechanismus. In einer Art Vision sah ich wie Häuser gebaut, Gärten und Wiesen bearbeitet wurden, erinnerte mich an Bilder der Krankenpflege, dachte an Angestellte in zahllosen Fabriken und Unternehmungen, auch an viele freischaffende Künstler. Meist bleiben sie namenlos, sind einfach da im Gewebe der Gesellschaft und leisten den wichtigen Beitrag zur Funktion unseres täglichen Lebens.

Bald ist Ostern. Ein kurzes Aufatmen, eine längere Ruhepause in den Betrieben. Unzählige Menschen aber arbeiten. Dieses selbstverständliche Da-sein im Dienst am Menschen wird oft übersehen wie die kleinen Blumen, die in dem immer satter werdenden Grün der Wiesen untertauchen. Sollten wir nicht immer neu dankbar sein, dass die Massliebchen blühen und, dass sehr viele Menschen kaum beachtet, arbeiten, karges Brot verdienen und oft ohne Anerkennung im Getöse des Weltlärms untergehen? Alles beginnt im Kleinen und alles verändert sich aus kleinsten Anfängen. Seit mehr als einem Jahr zeigt uns das Virus, dass die Kraft in kleinen, oft in unsichtbaren Dingen liegt, die uns im Rausch des Lebens besinnlich stimmen. Die Massliebchen blühen und sie sagen: «Der Winter ist vorbei, das Leben geht weiter.» Das Grosse und Laute fasziniert, aber unser Leben ist bestimmt vom Kleinen.

*Philippe Jaccottet: «Die wenigen Geräusche», Hanser Verlag

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1 Kommentar

  1. Merci à Andreas Iten pour cette belle citation de Philippe Jaccottet (1926-2021). En français: Ce peu de bruit, Edit. Gallimard 2008

    André Durussel

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