«Sind Sie das?» fragt Charles Lewinsky im Titel seines neuesten Buches. Diese Frage wurde ihm vor Jahren an einem Leseabend von einem «unhöflichen Gymnasiallehrer» in aller Öffentlichkeit gestellt. Und diese Frage wurde zum Auslöser für das Verfassen des vorliegenden Buches.
Er wollte der Frage nachgehen, was denn in seinen Romanen nicht nur in die Romanhandlung gehöre, sondern auch in seine persönliche Geschichte. Und er wollte die Erkenntnisse dann wie Mosaiksteine aneinanderreihen. Vielleicht würde daraus ein Selbstbild entstehen. Diese Idee hatte einmal der englische Dramatiker Tom Stoppard (geb. 1937) in einer Vorlesung geäussert. Auf gar keinen Fall sollte eine Autobiographie daraus werden. Da wollte sich Lewinsky an die Äusserung des amerikanischen Filmproduzenten Sam Goldwyn (1879-1974) halten: «Niemand solle seine Autobiographie schreiben, bevor er tot sei».
Ich habe diese «Nichtautobiographie» mit höchstem Vergnügen gelesen. Jedes Mal, wenn ich das Buch wieder in die Hand nehme, wird mir warm ums Herz.
Geburtstagsgeschenk
Charles Lewinsky feiert am 14. April seinen 75. Geburtstag. Wie er uns mitteilt, hat er, aus unterschiedlichen Gründen, folgende Ideen zur Würdigung seines Geburtstages verworfen: eine Kreuzfahrt zu buchen, seine Fotoalben endlich mal zu sortieren oder sich einen Porsche zu kaufen. «Aber das Buch, das schon so lang in meinem Hinterkopf rumort – das leiste ich mir zum Fünfundsiebzigsten». Dafür danken wir ihm aus der Tiefe unseres Gemütes und verbinden damit die allerherzlichsten Glückwünsche!
Nur, für wen ist das Buch geschrieben? «Wer soll so ein Buch lesen, das nur aus einer ungeordneten Abfolge von Assoziationen und Erinnerungen besteht?» fragt der Autor. Was ist seine Antwort? «Keine Ahnung. Leser sind mir in diesem Fall auch gar nicht wichtig.» Tja, Leser sind nicht wichtig. Leserinnen können, im Jahre 2021, nicht einfach «mitgemeint» sein. Sie sind also nicht etwa ebenfalls unwichtig, sondern gar nicht existent!
Das gibt mir die allerhöchste Freiheit, in meiner Besprechung nicht «dem Autor gerecht zu werden». Sondern vergnügt in diesem Buch herum zu tappen wie als Kind in einem Pflotschhaufen, der unter den Füssen quietscht, knirscht und spritzt, dass es eine Freude ist. Der Autor hat natürlich eine Leserschaft vor Augen. Er hat das Buch den drei Enkeln gewidmet: Mila, Yonathan und Hay. «Gewissermassen als Erinnerungsvorrat».
Deshalb hier noch eine schnöde, in aller Freiheit platzierte Nachbemerkung: Wer lässt denn ein für drei Personen bestimmtes Buch in einem renommierten Verlag erscheinen, gediegen ausgestattet, mit einem witzigen Coverbild versehen? Wie wäre es mit einem einzelnen Manuskript, natürlich mit Kopien, im A-4-Format gewesen? Sicher einfacher und weniger aufwändig in der Herstellung. Aber als Gabe zum eigenen 75. Geburtstag? Eine unmögliche Vorstellung!
Das Werk
In seiner «Spurensuche», wie Lewinsky sein Buch auch noch betitelt, nimmt er sich kapitelweise eine Reihe seiner Werke vor: «Hitler auf dem Rütli» (1984), «Mattscheibe» (1991), «Talkshow (Schuster)» (1997), «Johannistag» (2000), «Melnitz» (2006) «Doppelpass» (2009), «Gerron» (2011), «Kastelau» (2014), «Andersen» (2016), «Der Wille des Volkes» (2017), «Der Stotterer» (2019), «Der Halbbart» (2020). In jedem dieser Romane geht er auch den Spuren seines eigenen Lebens nach. Das ist ein spannender Vorgang. Besonders, wenn sich die Leserin dann auf der eigenen Spurensuche ertappt. Zürich und Luzern sind wichtig für Lewinsky. Sie sind auch mir vertraut.
Charles Lewinsky hat aber nicht nur in atemberaubendem Tempo Romane geschrieben. Wer sich kundig machen will, gebe seinen Namen bei Google ein. Unter Wikipedia finden wir seine Bücher, seine Theaterstücke, seine Musicals, seine Filmdrehbücher sowie die Literatur über ihn fein säuberlich aufgelistet.
Wohin jetzt mit dem kleinen Buch, das uns das Tor zum Leben und Werk von Charles Lewinsky weit aufstösst? Lassen Sie es nicht auf dem Regal verstauben, vergrauen, vergammeln, ja nach der Temperatur, die in Ihrer Bibliothek herrscht. Quetschen Sie es ins Handtäschchen, legen Sie es im Auto ins Handschuhfach, packen Sie es in den Rucksack, in eine Aussentasche, sodass Sie es jederzeit zur Hand haben. Denn ob Sie gerade hochgestimmt sind, gelangweilt oder traurig, Sie werden sicher auf eine passende Passage stossen, wenn Sie das Buch aufklappen.
Charles Lewinsky ist ein Mann von Welt. Deshalb erlaube ich mir, meine guten Wünsche zum Schluss nochmals, natürlich in der Weltsprache Englisch, zu formulieren: Happy Birthday to You!
Charles Lewinsky: «Sind Sie das? Eine Spurensuche». 2021 Diogenes Verlag AG Zürich. ISBN 978 3 257 07111 5
Bilder Diogenes Verlag/Porträt Maurice Haas