StartseiteMagazinKolumnen«Ich denk, ich denk zu viel.»

«Ich denk, ich denk zu viel.»

Ein Buch mit dem obigen Titel wurde angekündigt. Nina Kunz ist die Autorin. Ein erzählendes Sachbuch soll es sein. Dieser Titel liess mich nicht los und ich sagte mir: «Ich denke, ich schreibe ein Kolumne über das Denken».

Mein Vorsatz über das Denken zu schreiben, stellte sich dann als recht schwierig heraus. Ich merkte, dass mein Denken immer wieder vom Thema abwich. In Lücken schwebte es zu ungewollten Bildern, die nicht zum Thema passten, sowie ich es etwa auch beim Lesen erlebe. Es kommt zu Abschweifungen. Ein weiteres Phänomen liess mich zweifeln, ob das Denken gradlinig verlaufe. Wenn ich am Morgen erwachte, vom Schlaf in den Halbschlaf dämmerte, waren die unterschiedlichsten Gedanken schon da. Sie irrten ohne meinen Willen im Kopf herum. Es brauchte dazu keinen hellwachen Anstoss. So verfestigte sich die Überzeugung, dass es in mir denkt: Es denkt in mir, ohne dass ich denken will. Das Hüpfende der Assoziationen war meinem willentlichen Denken voraus. Diese Einsicht führte mich dazu, den Satz des Titels für mich zu ändern und zu schreiben: «Ich denke, es denkt in mir.» Ich konnte das Denken in seiner Willkür auf die Dauer nicht aufhalten, also musste ich das zweite Ich durch das Es ersetzen.

So geht es mir oft. Wenn ich die Blumen giesse, kann ich dies zielgerichtet tun, aber das Denken schweift ab und befindet sich oft da, wo ich es gar nicht haben möchte. Die Gedanken bleiben schwebend. So stelle ich also fest, das Denken ist ein Geschehen. Das Bild von einem Fluss fällt mir ein. Das Bild beginnt zu fliessen. Es macht Sprünge wie das Wasser über Steinen, es prallt an ein Ufer und wird zurückgeschlagen. Es mäandert im Bach. Ich muss also mein Denken in einen Kanal leiten, damit ich es beherrsche. Wie aber soll dies gelingen, wenn es sich immer wieder Lücken sucht für freie Einfälle. Es assoziiert von Bild zu Bild. Lässt die Konzentration nach, springen die Gedanken erst recht von dem einem zum anderen.

Phantasievolle Menschen werden von Bildern ständig überflutet. Wer denkt, steigt in den Fluss, ist dem inneren Treiben ausgesetzt und versucht die Einfälle zu fokussieren, damit er sich vom Thema nicht zu weit entfernt. Kein Schreibender weiss mit Sicherheit, was am Ende auf seinem Papier steht. Er muss darauf achten, dass er seine Einbildungskraft im Zaum hält. Wünsche und Begierden würden sein Denken chaotisch werden lassen. Dieses Geschehen beobachte ich auch in der Natur, die ihren eigenen Weg nimmt, wenn der Mensch sie nicht zu seinem Nutzen zwingt und bändigt. Sie weist eine eigene Dynamik auf, strebt aber im Ganzen immer nach dem Gleichgewicht.

Dass auch die Natur im Grunde ein Geschehen ist, das den Menschen in sich hineinzieht, erfuhr er in der Pandemie. Er wurde von ihr vor sich hergetrieben. Der Mensch ist selbst Natur und von ihr abhängig. Er steht, um im Bild zu bleiben, im Fluss des Lebens und ist ihm ausgeliefert. Schon wie er auf die Welt kommt und wie er stirbt, ist ein Geschehen. Die sich abzeichnende Klimakatastrophe, die von vielen missachtet und geleugnet wird, ist ein Geschehen. Wie soll der Mensch ihr entweichen? Die Gletscherschmelze geschieht. Dass uns der Klimawandel überwältigen wird, ist ein Geschick und stellt den Menschen vor die Frage, ob und wie er das Geschehen durch sein Verhalten beschleunigt hatte. Die wissenschaftliche Klimaforschung hat ihn längst darauf aufmerksam gemacht, aber der Mensch will weiterleben, wie es ihm gefällt.

Genau an diesem Punkt stehen wir heute. Mit dem blossen «Ich denke, es ist gefährlich», ist in der Klimapolitik nichts erreicht. Das Denken, das nach Wahrheit strebt, hält sich an Tatsachen. Der Satz «Ich denk, ich denk zu viel» sagt sehr gut, wie heute gegenseitige Streitgefechte ausgetragen werden. Ich lese gerade im Tagi-App einen über siebzig Kommentare reichenden Schlagabtausch über Trumps Steuerabgaben. Es wird mit Zahlen und Meinungen jongliert. Es handelt sich um einen Streit, der mit völlig unterschiedlichen Zahlen und beliebig herausgegriffenen Zitaten ficht. Da sieht man, dass das Denken des Denkens nicht weiterhilft, letztlich an der Sache vorbei zielt.

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