FrontLebensartWichtig ist eine gute Nachbarschaft

Wichtig ist eine gute Nachbarschaft

Gut leben in vertrauter Umgebung – das möchten viele ältere Menschen. Das Angebot an Wohnformen im Alter ist heute vielfältig. Auch die Bedürfnisse und Ansprüche im Alter sind unterschiedlich. Im Gespräch mit Seniorweb betont Antonia Jann, Leiterin der Age-Stiftung, die Wichtigkeit einer guten Nachbarschaft.

Seniorweb: Wohnen im Alter ist ein Dauerthema, das kontrovers geführt wird. Welche Beobachtungen und Erfahrungen machen Sie zu den Fragen des Wohnens im Alter?

Antonia Jann: Das Thema Wohnen ist eigentlich allen Leuten enorm wichtig. Je älter man wird, umso wichtiger werden die Wohnung und das Wohnumfeld, weil der Bewegungsradius kleiner wird. Die Wohnung ist der Ort, wo man sich zurückziehen kann, wo man selber bestimmen kann, was man macht. Deshalb ist es für viele Menschen bedrohlich sich vorzustellen, dass man plötzlich in einer Institution lebt und nur noch wenig Privatheit hat. Meine Beobachtung ist, dass sich immer mehr Leute Gedanken machen, in welcher Umgebung sie, auch mit eintretenden Altersbeschwerden, gut leben können.

Viele ältere Menschen wollen den Lebensabend im eigenen Heim verbringen. Wann ist der Zeitpunkt erreicht, die eigene Wohn- und Lebenssituation zu überdenken? Welche Entscheidungshilfen sind angezeigt, damit der Wohnwechsel gelingen kann?

Ich glaube alle Menschen wollen so lange wie möglich in ihrer privaten Wohnumgebung bleiben. Logischerweise geht das nicht immer. Wenn jemand zum Beispiel an einer Demenz erkrankt ist und das Umfeld mit der Betreuung überfordert ist, gibt es oft keine andere Möglichkeit als einen Heimeintritt. Aber das ist die Ausnahme. Heute leben mehr als die Hälfte der Menschen über 90 Jahren immer noch zu Hause. Und da hilft es natürlich, wenn man einen Lift hat, wenn man die Nachbarn kennt und wenn es Laden und Apotheke in der Nähe hat.

Der Gang ins Altersheim war früher meist die einzige Lösung. Heute bieten sich verschiedene andere Möglichkeiten an. Im Trend sind unter anderem Alters-WGs und Generationenhäuser. Wie beurteilen Sie die heutige Entwicklung?

Was ich sehr begrüsse ist die Diskussion über das Wohnen und Älterwerden. Früher gab es ja nicht viel zu überlegen. Man wohnte in seinem Haus und ging am Schluss ins Heim, wenn es sein musste. Heute ist das fundamental anders. Die Wohnmobilität ist viel grösser geworden. Die Menschen ziehen in eine Familienwohnung oder in ein Einfamilienhaus, wenn die Kinder klein sind. Aus meiner Sicht macht es Sinn, nicht nur für die Familienphase eine passende Lösung zu suchen, sondern auch für die nachberufliche Phase. Wenn man sich dazu Überlegungen machen möchte, ist es praktisch, wenn man Alternativen sieht. Die meisten leben zwar gerne in einer gewöhnlichen Wohnung. Andere schätzen aber den regen sozialen Austausch in einer Generationenwohnung oder in einer Alters-WG. Was allen Leuten wichtig ist, ist eine gute Nachbarschaft.

Ihre Stiftung hat schon verschiedene Projekte Wohnen im Alter gefördert. Welche Anforderungen und Kriterien müssen erfüllt sein, damit solche Projekte unterstützt werden?

Wir haben keine strengen Kriterien, sondern wir möchten mit unseren Fördermitteln dazu beitragen, dass die Vielfalt von Wohnangeboten zunimmt. Erstens möchten wir dazu beitragen, dass es für verschiedene Bedürfnisse und verschiedene Portemonnaies gute Wohnangebote gibt. Und zweitens möchten wir aufzeigen, welche Aspekte zum Wohnen und Älterwerden gehören. Weil die älteren Menschen, ihre Wünsche, Bedürfnisse und Möglichkeiten unterschiedlich sind, sollen auch die Wohnangebote unterschiedlich sein.

Welche Förderprojekte Ihrer Stiftung bezeichnen Sie als besonders gelungen? Was unterscheidet diese Projekte von anderen?

Das ist eine schwierige Frage, denn es gibt kein allgemeines Rezept für ein «gutes Projekt». Mir gefallen Projekte, die pflegebedürftige Menschen möglichst nahe am gewohnten Leben teilhaben lassen. Zum Beispiel das Projekt Freya, eine Pflegewohngruppe, die in einer genossenschaftlichen Neubauwohnung in Zürich erstellt wurde. Mir gefallen aber auch Projekte, bei denen Menschen die Möglichkeit haben, sich zu begegnen und zu engagieren, zum Beispiel im Generationenhaus Schwarzenburg im Kanton Bern. Und schliesslich gefallen mir auch technische Lösungen, die dazu beitragen, dass sich die Pflege und Betreuung von alten Menschen verändert. Zum Beispiel das Projekt Incanto, wo Menschen mit Demenz musikalisch und akustisch Erinnerungen erleben können.

In dieser genossenschaftlichen Mehrgenerationen-Siedlung in Zürich ist die Pflegewohngruppe Freya integriert. 

Der Bedarf an Alterswohnungen ist gross, wie lange Wartelisten bei öffentlichen Alterswohnungen belegen. Muss die öffentliche Hand mehr tun, um der steigenden Nachfrage zu genügen?

Ich glaube nicht, dass es Aufgabe der öffentlichen Hand ist, flächendeckend günstigen Wohnraum für ältere Menschen zur Verfügung zu stellen. Es ist sicher richtig, dass die öffentliche Hand darauf achtet, dass Gebäude altersgerecht erstellt werden und dass bei der Vermietung auch ältere Menschen berücksichtigt werden. Und selbstverständlich ist es wichtig, dass es hindernisfreie Wohnungen an guter Lage in verschiedenen Preisklassen gibt. Aber es ist ja nicht so, dass alle älteren Menschen auf subventionierte Wohnungen angewiesen wären. Ausserdem gibt es auch schwierige Situationen bei jüngeren Menschen und Familien.

Einen Aspekt möchte ich noch erwähnen: Die Gemeinden sollten aus meiner Sicht deutlich mehr dazu beitragen, dass man in der eigenen Wohnung gut alt werden kann. Dazu gehört eine aktuelle Information über bestehende Dienstleistungen, das Schaffen von Begegnungsmöglichkeiten und vielleicht auch zugehende Angebote. Wenn wir wollen, dass die Menschen nicht ins Heim gehen müssen, müssen wir die Unterstützung zu Hause verbessern.

Die meisten älteren Menschen möchten wenn möglich im angestammten Quartier wohnhaft bleiben. Wie kann diesem Bedürfnis besser nachgelebt werden?

Die Menschen sind tatsächlich gerne in einer vertrauten Umgebung. Ideal ist es natürlich, wenn man in einem vertrauten Quartier eine hindernisfreie Wohnung hat. Dann sind die Chancen, dass man in einer guten Situation alt werden kann, relativ gross.

Aber auch wenn man umzieht, kann man sich die Umgebung erschliessen und aneignen. Manchmal ist es sogar leichter, neue Personen kennen zu lernen, wenn man in eine andere Umgebung zieht, wo andere auch neu sind und wo vielleicht nicht alle den ganzen Tag auswärts bei der Arbeit sind. Dass Begegnungen stattfinden können, setzt aber Begegnungsorte und eine gewisse persönliche Offenheit voraus.

Was man ebenfalls nicht vergessen darf: Auch das angestammte Quartier kann sich verändern, so dass man plötzlich «fremd» wird in der eigenen Wohnumgebung. Neue Häuser werden gebaut, Läden gehen zu, Nachbarn ziehen weg oder sterben.

Betreutes Wohnen wird immer wichtiger in unserer alternden Gesellschaft. Welche neuen Wohnmodelle bieten sich an, damit diesem wachsenden Bedürfnis nach Betreuung entsprochen werden kann?

Betreutes Wohnen ist tatsächlich in den letzten Jahren stark gewachsen. Es gibt vier verschiedene Stufen von betreutem Wohnen. In der leichtesten Stufe hat man eine fixe Ansprechperson– zum Beispiel einen Hauswart – und Entlastung im Haushalt. In der stärksten Stufe sind viele Dienstleistungen integriert wie Mahlzeiten, Reinigung, tägliche Kontakte mit Betreuungspersonal, leichte Pflege. Die stärkste Stufe ist ähnlich wie ein Heimaufenthalt. Leider gibt es wenig Möglichkeiten für einen «fliessenden Übergang» von einem leicht betreuten zu einer stark betreuten Wohnform oder dem Heim. Wenn es in einer Stufe nicht mehr geht, muss man umziehen – dies hat auch mit der Finanzierung zu tun, die im Heim anders läuft als im betreuten Wohnen.

Wir werden alle älter. Machen Sie sich bereits Gedanken darüber, wie Sie Ihren Lebensabend verbringen wollen?

Mein Mann und ich hatten uns vorgenommen, nach der Familienphase nochmals ein neues Wohnprojekt zu starten. Dafür hatten wir uns ein Zeitfenster gesetzt: Fünf Jahre nach der Matura der jüngeren Tochter sollten wir eine Idee haben, wie es mit uns weitergeht. Weil wir uns diesen «Auftrag» gegeben hatten, schauten wir Projekte genauer an und so haben wir schon nach kurzer Zeit für uns eine neue Wohnung gefunden. Wir hatten das Glück, dass wir unsere Wohnung verkaufen und mit dem Erlös die neue Wohnung kaufen konnten. Hier haben wir einen Lift, gute Nachbarn und eine lebendige Umgebung. Eine Weile sollten wir hier noch bleiben können. Und falls es Probleme gibt, hoffe ich, dass ich genügend Flexibilität behalten habe, um mich auf eine neue Situation einzulassen.

Titelbild: Jung und Alt trifft sich zum gemeinsamen Spiel (Bild: Ursula Meisser)


Dr. Antonia Jann ist promovierte Gerontologin. Sie leitet seit rund 20 Jahren die Age-Stiftung, die sich mit dem Thema Wohnen und Älterwerden beschäftigt. Ursprünglich studierte Antonia Jann Pädagogik, Psychologie und Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich. Sie lebt in Zürich und hat zwei Töchter sowie zwei Enkelkinder.

www.age-stiftung.ch

 

1 Kommentar

  1. Alles sehr gut. Aber liebe Frau Jann, Sie sagen es: ‹… es gibt auch schwierige Situationen bei jüngeren Menschen und Familien.›

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