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Aufrecht durchs Leben gehen

Unterschiedlicher können die Welten nicht sein, die Helga Schubert erlebt hat. Im kürzlich erschienenen Buch «Vom Aufstehen» erzählt sie davon. Dafür wurde ihr 2020 der Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen.

Von ihren liebsten Kindheitserinnerungen erzählt die Autorin zu Beginn: Sie durfte die ganzen langen Sommerferien bei ihrer Grossmutter am Rande von Greifswald verbringen. Man muss die mageren Zeiten nach dem 2. Weltkrieg kennen, um ermessen zu können, welchen Genuss ihr ein Stück Streuselkuchen und Muckefuck-Kaffee bereiten, während sie dabei in der Hängematte liegt. Bohnenkaffee bekam nur die Grossmutter, die erklärte: «Meine Medizin, das brauche ich für mein Herz.»

Die Liebe und Fürsorge, die das Mädchen Helga bei ihrer Grossmutter väterlicherseits erfuhr, fehlte ihr bei ihrer eigensinnigen und innerlich verletzten Mutter. Der Schmerz, den Helga durch diese Mutter erfuhr, durchzieht das ganze Buch – und sie stirbt erst mit 101 Jahren. Doch das Buch der Tochter ist nicht von Bitterkeit geprägt, dafür ist Helga Schubert zu geläutert und grosszügig. Als Psychotherapeutin hat sie gelernt einzuschätzen, warum ihre Mutter sich oft brüsk und streng gegenüber ihrer einzigen Tochter verhielt.

Vom Aufstehen handelt von den achtzig Lebensjahren der Autorin in 29 Erzählungen, in kurzen Szenen. Helga Schubert schreibt in präziser, klarer, konzentrierter Sprache mit Wärme, aber ohne jedes Pathos. Sie zu lesen, ist reines Vergnügen, das nur durch den Inhalt zuweilen eine trübe Note erhält, denn ein Leben, das 1940 begann, verlief nicht ohne Belastungen.

Geboren wurde die Autorin 1940 in Berlin, ihr Vater starb ein Jahr später als Soldat. Als Berlin von den Bomben bedroht wurde, fuhr ihre Mutter mit ihr ins Dorf ihres Vaters nach Hinterpommern, wo sie zähneknirschend aufgenommen wurden, denn Mangel war schon damals verbreitet. Von dort mussten sie vor den Panzern der Roten Armee flüchten. So war die fünfjährige Helga nicht nur Halbwaise, sondern auch Flüchtlingskind – ein in Deutschland häufiges Schicksal -, und wuchs in Ostberlin auf, in der sich mit der Zeit verhärtenden DDR. Man lernte, sich mit prekären Verhältnissen zu arrangieren. Die Autorin schreibt darüber zugleich sachlich und lebendig, oft meint die Lesende, sie habe Helga Schubert begleitet.

«Ich bin ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung. Auch heute noch, dreissig Jahre nach dem 9. November 1989, sehe ich aus dem Zugfenster die Grenze von damals noch leibhaftig, auf dem Todesstreifen sind die Sträucher und Bäume noch jünger, erst DANACH gepflanzt.»

Umbrüche prägen

Angesichts der Ereignisse des 9. November 1989 fragt sie sich, wie sie davon literarisch erzählen kann: «Mit Selbstironie, aus verschiedenen Blickwinkeln . . . nichts Eindeutiges, Belehrendes, Aufklärerisches. Vor allem ohne Pathos». Damit beschreibt Helga Schubert ihr Schreiben selbst aufs Beste.

Wie sie in zwanzig Seiten vom Tod zweier RAF-Angehöriger in ihrem Kleinstadtbahnhof berichten kann, vom Freitod des Nachbarn und wie sie sich selbst ihre Beerdigung vorstellt, ohne rührselig zu werden, das beeindruckt. Der Humor angesichts der Absurdität der nahen Grenze geht dabei nicht verloren.

Poesie erfüllt die Gedanken über ihr Leben im Winter, in der Kühle der Luft fühlt sie sich hellsichtig. Ihr neunjähriger Enkel stellt fest, dass jeder Mensch zwei Grossmütter hat, und spinnt dies weiter: «Wenn die nicht alle gestorben wären, gäbe es unendlich viele Grossmütter.» – Eine geradezu philosophische Erkenntnis. Die historische Entwicklung der letzten acht Jahrzehnte lässt sich in «kleinen» Szenen am besten begreifen, wie Bert Brecht sich ausdrücken würde, den Schubert ein paar Mal zitiert.

Helga Schubert © Renate von Mangoldt / dtv

Nach der Schulzeit studierte Helga Schubert Psychologie und war lange als Psychotherapeutin tätig. Schon Mitte der 1960er Jahre hatte sie mit Schreiben begonnen. Ihre Kinderbücher, Hörspiele, Prosatexte u.a. fanden auch in der DDR Beachtung. Allerdings hielt sie sich nicht immer an die gewünschte Parteilinie und stand deshalb jahrelang unter Beobachtung.

Als sie 1980 auf Einladung von Günter Kunert in Klagenfurt an den Tagen der deutschsprachigen Literatur lesen sollte, hätte sie ausreisen dürfen, hätte jedoch riskiert, ausgebürgert zu werden, wie es Wolf Biermann 1976 geschehen war. Deshalb verzichtete Helga Schubert damals auf die Reise und die Chance, schon zu jenem Zeitpunkt den Preis zu erhalten. Auch 2020 konnte sie nicht nach Klagenfurt reisen, denn ihr durch Krankheit behinderter Mann brauchte ihre Betreuung. Diesmal wurde sie beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt dennoch ausgezeichnet – als erste Achtzigjährige. In diesem ersten Corona-Jahr waren Ausnahmen unvermeidlich.

Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. 222 Seiten. dtv 2021.
ISBN 978-3-423-28278-9

Nachwort:
Je mehr ein Buch uns berührt, desto schwieriger wird es, darüber zu schreiben. Das gilt in besonderem Masse für mich und die 29 Geschichten von Helga Schubert. Ich bin vier Jahre jünger als sie, bin, bis ich 16 Jahre alt war, in Dresden aufgewachsen und kannte die Autorin vorher nicht. In jeder ihrer Geschichten gibt es etwas, was mich innerlich anspricht. Ihre nüchterne Sicht auf das Unvermeidliche, ihr Geschick, sich von gewissen Dingen nicht überwältigen zu lassen, andererseits ihre Freude an scheinbar Alltäglichem, das weckt eine Resonanz in mir. Während ich das Buch las, gewann ich die Überzeugung, dass Einschränkungen und Hindernisse, die wir beide unabhängig voneinander und jede auf unsere Weise erlebten, zu einer ähnlichen Haltung führten, die Welt zu betrachten, – und zu einer gewissen Heiterkeit. Helga Schubert hat das alles in meinen Augen unübertrefflich formuliert.

Titelbild:  In dieser Landschaft wohnen Helga Schubert und ihr Mann, der Maler und Psychologieprofessor Johannes Helm, seit einigen Jahren. Schwarzer See nahe Zickhusen in Mecklenburg-Vorpommern / commons.wikimedia.org

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