Mit dem Dokumentarfilm «Die Pazifistin» bringen uns Fabian Chiquet und Matthias Affolter die vergessene Gertrud Woker, die Forscherin, Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin, nahe – und machen damit einen ersten Schritt zu ihrer Rehabilitation.

«Mit diesem Film wollen wir der vergessenen Geschichte einer herausragenden Frau Geltung verschaffen. Gertrud Wokers Geschichte ist aktuell, weil sie ihrer Zeit auf verschiedenen Gebieten voraus war: Sie forderte gleiche Rechte für Frauen, internationale Verständigung statt Nationalismus, Verantwortung der Wissenschaft und interdisziplinäres Denken. Mit ihren kühnen und neuartigen Ideen stellte sie sich gegen die Konventionen ihrer Zeit und nahm vieles vorweg, was erst nach ihrem Tod umgesetzt wurde – und bis heute aktuell bleibt», heisst es im Kommentar der Filmemacher Fabien Chiquet und Matthias Affolter.

Gertrud, ein eigensinniges Kind

Entdeckung zum Aufarbeiten

Die Formen der sexuellen Gewalt gegen Frauen kennen wir aus den Medien; weniger bekannt sind die Formen der strukturellen Gewalt, wie sie Gertrud Woker erleben musste. Sie war, wie wir aus dem Film erfahren, eine grossartige Frau, klug und liebenswert, originell und engagiert, musste aber, weil sie eine Frau war, Behinderung und Erniedrigung erfahren. Trotz ihrer von der Forschung bezeugten Bedeutung ist sie auch heute erst wenig bekannt. Es ist zu hoffen, dass «Die Pazifistin», der klug recherchierte und fantasievoll gestaltete Film, ihr zum Durchbruch und angemessenen Platz in der Geschichte verhelfen wird.

Der animierte, teils auf mehreren Ebenen spielende Film erzählt collagenhaft das Leben und die Errungenschaften von Gertrud Woker. Mit Tagebucheinträgen, wissenschaftlichen Berichten und eigenen Gedichten überzeugt der Film durch inhaltliche und formale Originalität, Authentizität und Leidenschaft. Diese Biografie könnte helfen, die Gegenwart durch die Vergangenheit zu verstehen, um es in Zukunft ein wenig besser zu machen. Obwohl es Gertrud Woker nicht vergönnt war, die Resultate ihres 90-jährigen Kampfes zu erleben, kann ihre Geschichte uns Heutigen Mut machen. Trotz Rückschlägen, Niederlagen und Anfeindungen blieb sie bis an ihr Lebensende produktiv und kämpferisch, liess sich nicht vereinnahmen, als «knorriger Eichbaum inmitten der Ödnis», wie sie sich selbst beschrieb.

Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit

Vorbild für die Zukunft

Gertrud Woker setzte sich als eine der ersten Professorinnen Europas beharrlich für Frauenrechte und Frieden ein. Genderdiskriminierung und Kriegstreibereien zum Trotz folgte sie ihrer Überzeugung und wurde zur Inspiration für andere Frauen. Bereits 1917 forderte sie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, verlangte gleichen Lohn für gleiche Arbeit, war national und international eine verlangte Rednerin in der Friedensbewegung. Durch ihre Forschung und Kritik am Einsatz von Giftgasen geriet die Naturwissenschafterin in Konflikt mit der militaristisch motivierten Elite, kämpfte unaufhaltsam für Frieden und Gerechtigkeit und gegen den Missbrauch der Wissenschaft. Als geisteskrank verleumdet, verbrachte sie die letzten Jahre in einer psychiatrischen Klinik. So verschwand sie gewaltsam aus dem historischen Gedächtnis.

Nun ist zu hoffen, dass die Wut und Verzweiflung über die Arroganz und Gewalt der Männer und Kriegstreiber, welche der Film bei Zuschauerinnen und Zuschauer auslöst, sich auch bei uns bald in Kreativität und Mut verwandelt; denn diese sind heute nötiger denn je.

Franziska Rogger, eine der Historikerinnen

Interview mit den Filmemachern von «Die Pazifistin»

Mit Fabian Chiquet, 1985 in Basel geboren, Musiker, Künstler und Filmemacher, im Film Co-Autor, Co-Regie und zuständig für die Animation; Matthias Affolter, 1976 in Basel geboren, Filmemacher, bekannt vom Film «Im Spiegel – vom Leben im Verborgenen», im Film Co-Autor und Co-Regie:

Wie seid ihr auf Gertrud Woker aufmerksam geworden?

Fabian Chiquet: Nachdem ich innerhalb kurzer Zeit Vater wurde und meine Mutter verlor, begann ich mich mit Genderfragen auseinanderzusetzen. 2017 inszenierte ich zusammen mit der Rapperin Steff La Cheffe ein Musiktheater, welches sich mit der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft auseinandersetzte. Während der Recherche stiess ich auf die Biografie von Gertrud Woker, die mich sofort faszinierte, da auch meine Eltern Naturwissenschaftler waren.

Wie entstand die Idee, einen Film daraus zu machen?

Fabian Chiquet: Mich interessierte speziell der Perspektivenwechsel auf die Geschichte. Als Jugendlicher verschlang ich Romane über die Weltkriegszeit, in denen es von Helden wimmelte, Frauen dagegen kaum eine Rolle spielten. Ich finde es empörend, wie wenig die Geschichte aus der Sicht von Frauen geschrieben wurde, und sehe es als eine Pflicht, Versäumtes nachzuholen. Zunächst habe ich eine Videoinstallation über das Leben von Gertrud Woker realisiert, die ich an einem verregneten Wochenende auf einer Brache in Bern zeigte. Die Reaktionen zeigten mir, wie gross das Interesse an einer Geschichtsschreibung ist, in der auch Frauen ihren Platz haben. Dies motivierten mich, Wokers Geschichte weiter zu verfolgen. Da ich selbst noch nie einen längeren Film realisiert habe, suchte ich nach einer Person, die bereits grosse Dokumentarfilm-Erfahrung mitbrachte.

Matthias Affolter: Fabian hat mich daraufhin angefragt, ob ich Interesse hätte, mit ihm einen Dokumentarfilm über eine Pazifistin und Frauenrechtlerin zu realisieren, von der ich noch nie gehört hatte. Ich begann, mich mit ihrer Biografie auseinanderzusetzen und war erstaunt, wie aktuell ihre Anliegen und Ideen noch heute sind.

Was hat dich an Wokers Geschichte interessiert?

Matthias Affolter: Gertrud Woker kämpfte ein Leben lang für Veränderungen, ohne dabei ein messbares Resultat zu sehen. Mich interessierte, wie es diese Frau schaffte, sich und ihren Ideen ein Leben lang treu zu bleiben. Dies, obwohl ihr Kampf meist hoffnungslos schien und sie für ihr Engagement auch viele Nachteile in Kauf nehmen musste. Gertrud Wokers Leben zeigt, dass es sich zu kämpfen lohnt, auch wenn es aussichtslos scheint. Das macht sie für mich zu einer zeitlosen Figur, die gerade heute inspirierend sein kann.

Was war die grösste Herausforderung?

Fabian Chiquet: Wir wollten das Leben einer Frau erzählen, von der weder Film- noch Tonaufnahmen existieren. Nach einer intensiven Recherche mussten wir auch die Idee aufgeben, eine Person zu finden, die Gertrud Woker noch persönlich gekannt hat. Das Fehlen von jeglichem Originalmaterial war aber zugleich auch eine Chance, völlig neuartig mit dem vorhandenen Archivmaterial umzugehen. Die Dokumente, welche die drei Protagonist*innen bei ihren historischen Forschungen oder aus dem Familiennachlass zusammentrugen, verwoben wir mit Bild-, Ton- und Filmmaterial aus Wokers Zeit. Aus vielen kleinen Bausteinen versuchten wir so, Bilder und Szenen zu kreieren, die Wokers Geschichte mit den Mitteln des Films erlebbar machen. Manchmal fühlte es sich an, als stünden wir vor einem riesigen Mosaik, in dem das Porträt unserer Hauptfigur erst sichtbar wird, wenn die Bausteine am richtigen Ort liegen.

Welche Rolle haben die Protagonist*innen im Film?

Matthias Affolter: Sie sind Spurensuchende, die die Fragmente von Wokers Geschichte ans Licht bringen, und das historische Material auch deuten. In der Diskussion mit Gerit von Leitner, Franziska Rogger und Martin Woker versuchten wir, die vielen Leerstellen in Wokers Geschichte zu erschliessen. Es war uns aber auch wichtig, Unklares offenzulassen, damit sich das Publikum ein eigenes Bild dieser Frau machen kann. Deshalb verzichteten wir auf eine kommentierende Stimme und wollten Wokers Geschichte vielmehr aus ihrer eigenen Perspektive erzählen. Ihre eigenen Aussagen stellten wir Zitaten gegenüber, welche die vorherrschenden Ideen und Meinungen repräsentieren. So entstand ein Dialog zwischen Gertrud Woker und dem damaligen Zeitgeist.

Wokers Texte werden von der bekannten Musikerin Dodo Hug gelesen. Wie kam es zur Zusammenarbeit?

Fabian Chiquet: Wokers sehr berührende autobiografische Texte waren für den Film natürlich von grosser Bedeutung. Erst durch sie kommen wir der Person Gertrud Woker wirklich nahe. Deshalb war die Rolle der Sprecherin sehr wichtig und wir suchten nach einer Frau, die Woker wirklich verkörpern kann – mit all ihrem Witz, ihrer Poesie, ihrer kämpferischen Ader, mit ihren Ecken und Kanten. Für Dodo Hug war das ein Heimspiel. Sie ist eine starke Frau mit beeindruckender Biografie und eine wunderbare Stimmkünstlerin, die sich sehr gut mit den Themen identifizieren konnte. Sie war die Idealbesetzung für diese Rolle.

Wie spiegelt sich Wokers Leben im Stil des Films wider?

Matthias Affolter: Gertrud Wokers Wirken fällt in eine Zeit grosser weltgeschichtlicher Umbrüche, in der sich die Ereignisse überschlugen. Auch Woker selber kämpfte immer gleichzeitig an mehreren Fronten und war bis ins hohe Alter auf der ganzen Welt unterwegs. Dieses oft rastlose Leben, das Woker auch an die Grenze ihrer persönlichen Belastbarkeit brachte, wollten wir mit einer auf allen Ebenen dichten Erzählweise erfahrbar machen.

Wen wollt ihr mit diesem Film erreichen?

Fabian Chiquet: Wir wollen den Film einerseits der Generation zeigen, die an Wokers Seite gekämpft hat und zeigen, dass sie nicht alleine waren. Andererseits war es uns auch ein Anliegen, einen Film zu schaffen, der ein jüngeres Publikum anzusprechen vermag. Es gibt gerade in der Schweiz wenige weibliche Vorbilder aus der Geschichte. «Die Pazifistin» ist auch ein grossartiger, überzeugender Beitrag, um diese Lücke zu schliessen.

Titelbild: Gertrud Woker (1878 – 1968)

Hinweis auf einen lesenswerten Artikel: Esther Staub: Die vergessene Heldin Gertrud Woker, Neue Wege, 22. Juni 2021

Regie: Fabian Chiquet, Mathias Affolter, Produktion: 2021, Länge: 75 min, Verleih: First Hand Films