Ich sitze im Tram. Plötzlich steht ein mächtiger Mann neben mir, er berührt mich sanft mit der Hand am Arm und murmelt leise: «Maske vergessen?» Ich erschrecke, werde gewahr, dass ich tatsächlich noch keine Maske trage. Ich erröte, handle schnell, greife nach der Maske im Kittelsack, ziehe sie auf. Tatsächlich: erwischt! Ich will aber auf keinen Fall auffallen, sinke noch tiefer in den Sitz.
Eben hatte ich noch in der Zeitung gelesen, dass sich bis jetzt nur 50% der Spitex-Mitarbeitenden impfen liessen, dass die Impfquote in der Schweiz mit 53% die tiefste in Europa ist, dass es in Dänemark dagegen über 80% sind, die vollzogen hätten, was die Regierung gefordert hatte. Dass die Däninnen und Dänen jetzt ganz locker zu feiern wüssten, was die Zeitung mit dem entsprechenden Bild gleich über dem Text belegte. Ein Wechselbad der Gefühle erfasst mich. Bin ich selbst schon nachlässig geworden, nicht mehr ernsthaft genug unterwegs, obwohl die neuesten Ereignisse in meinem Umfeld mich weit sensibler hätten machen müssen?
In «meiner» Strasse treffe ich auf zwei Nachbarinnen, die mit besorgten Gesichtern beieinanderstehen, ein ernsthaftes Gespräch miteinander führen. Mir ist schnell klar, um was es sich wohl handelt. Am Vortag hatte sich schnell verbreitet, was uns alle schockiert hatte: Andi Herczog (74), unser Nachbar, war am letzten Sonntag einer Corona-Infektion erlegen, nach einer Woche auf der Intensivstation des Universitätsspitals Zürich. Wir wussten alle auch, dass er, bevor er im Juni für zwei Monaten nach Griechenland in sein Haus verreist war, sich zweimal hatte impfen lassen, dass er eine Vorerkrankung hatte, aber noch voller Tatkraft, voller Lebensfreude war. Endlich hatte er sich als freier ETH-Architekt pensioniert, einen neuen Lebensabschnitt gestartet. Vor seiner Abreise sassen wir einen ganzen, langen Abend zusammen, räsonierten über unsere gemeinsame Vergangenheit, in der Politik, im Bundeshaus. Wir reihten Anekdote an Anekdote und ergötzten uns über dies und jenes, über die und den, über Willy Ritschard und Christoph Blocher. Weit ernsthafter wurde das Gespräch, als er über den permanenten, oft überdeckten Konflikt zwischen den Nato-Staaten Griechenland und Türkei zu sprechen kam, den er seit Jahren intensiv beobachtet. Wie die beiden Staaten ihre Armeen hochrüsten und ewig um Zypern streiten würden. Aber auch, wie sich China in Griechenland breit mache, den Hafen in Piräus, bereits in chinesischem Besitz, hochrüste, wie «sein» Griechenland zusehends in die Abhängigkeit Pekings gerate.
20 Jahre sass er im Nationalrat, war ein Kämpfer für den öffentlichen Verkehr, als es dafür noch keine Lorbeeren zu holen gab. Als ungarisches Flüchtlingskind schaffte er zwar eine aussergewöhnliche, doch eine durch und durch schweizerische Politkarriere, vom Gemeinderat über den Kantonsrat in den Nationalrat bis zu einer bestimmenden, lösungsorientierten Figur in der eidgenössischen Verkehrspolitik. Und an einen Satz von ihm an diesem Abend erinnere ich mich ganz besonders, als er über seine Impferfahrung erzählte: «Impfen ist doch ein Akt der Solidarität, denn meine Freiheit endet immer an der Freiheit des anderen». Und nicht wie Ueli Maurer, der sagte: «Wenn Sie sterben, sterben Sie; wenn Sie gesund bleiben, bleiben Sie gesund, und wenn Sie jemanden anstecken, ist das Ihre Verantwortung.» Aber jemanden andern anzustecken ist kein Akt der Eigenverantwortung, schon gar kein Akt der Solidarität, sondern schlicht unverantwortlich. Wo sich Andi trotz Impfschutz ansteckte, ist ungeklärt. Selbst wenn das Impfen nicht die 100prozentige Sicherheit garantiert, ist es ein Gebot der Stunde, gar eine Selbstverpflichtung. Und das Tragen einer Maske in öffentlichen, unkontrollierten Räumen auch für Geimpfte erst recht.
Wie Sie richtig sagen, liegt die Impfquote in den Ländern, die praktische alle Corona Massnahmen aufheben, inkl. Maskenpflicht, um die 80%. Die Impfquote liegt in der wohlstandsverwöhnten Schweiz, wo sich jede und jeder kostenfrei impfen lassen kann, bei skandalösen 53%! Nur Rumänien und Bulgarien haben in Europa weniger geimpft. Das ist mehr als ein Zeichen mangelnder Solidarität. Uninformiertheit, Anfälligkeit auf Verschwörungstheorien geschürt durch die (a)sozialen Medien, ländlich berglerische Sturheit und Trotzköpfigkeit geschürt durch die grösste Partei und ihren (Treychler) Exponenten bis in den Bundesrat, sind Gründe, die uns zu denken geben müssen. Dass die grösste Partei und ihr Trojanisches Pferd im Bundesrat, aus der Pandemie, den Impfskeptikern und Coronaleugnern politisches Kapital schlagen will, ist widerlich und muss viel mehr thematisiert und kritisiert werden! Seit dem Frühjahr ist der Ball zur weiteren Pandemiebekämpfung bei uns Bürgern. Die Pandemieexperten hatten bereits zu Beginn der Impfkampagne informiert, dass eine Impfquote und Immunisierung von 80% der Bevölkerung eine weitgehende Rückkehr zur Normalität bringen wird. Es liegt also längst nicht mehr an den Behörden, dass wir nicht soweit sind wie andere Länder sondern eben an den lautesten Ausrufern und Kritikern, die meinen alles besser zu wissen als 99% unserer Miteuropäer, die ihre Verantwortung und Solidarität zur Bewältigung der Pandemie geleistet haben.