Wie Schule sein soll, scheinen alle zu wissen. Wie eine glaubwürdige und authentische Utopie einer Schule ausschaut, lässt uns Maria Speth im Dokumentarfilm «Herr Bachmann und seine Klasse», tief berührt und bewegt, erleben. Ab 30. September im Kino.
«Herr Bachmann und seine Klasse» porträtiert die Beziehung zwischen einem Lehrer und den Schüler*innen der sechsten Klasse einer deutschen Oberstufe vor der Aufteilung in Hauptschule, Realschule und Gymnasium. In einnehmender Offenheit begegnet Herr Bachmann, mit Wollmütze und abgetragenen Klamotten, den Jugendlichen mit ihren unterschiedlichen sozialen und kulturellen Erfahrungen und schafft damit einen Raum des Vertrauens. Die Schüler*innen kommen aus der Türkei, Italien, Marokko, Bulgarien, Brasilien, Russland, Rumänien und Kasachstan. Der Lehrer steht, nach siebzehn Jahren, kurz vor der Pensionierung. Was in diesem Jahr abläuft, auf 217 Minuten verdichtet, zeigen uns die Regisseurin Maria Speth und ihr Kameramann Reinhold auf Augenhöhe und mit Empathie. Neben dem Unterrichtsstoff ist Musik allgegenwärtig, und der soziale Umgang in der Klasse ist Dieter Bachmann wichtiger als der Pythagoras. Er war ein Quereinsteiger, Ex-Revolutionär, Aussteiger, Volkssänger, Künstler. – Die Exkurse in die deutsche Vergangenheit sind beispielhaft und wichtig, müssten für uns auf die schweizerische Vergangenheit übertragen werden.
Hier wird auch reklamiert und protestiert
Zehn Schritte einer persönlichen Annäherung an den Film
Nach den 217 Minuten suche ich nach Worten, den Film zu beschreiben. Am nächsten kommt meinem Erlebnis «Ein Film, der einem den Glauben an die Menschheit zurückgibt» (Blickpunkt Film).
«Herr Bachmann und seine Klasse» ist keine Minute zu lang. Um so nahe ans Leben der Schüler*innen und ihres Lehrers zu kommen, wie es hier geschieht, sind die dreieinhalb Stunden nötig.
Maria Speths Film ist einer der seltenen, der ohne Antworten auskommt, sondern in Szenen aus der Realität Fragen zum Sinn des Lebens stellt, die wir zu beantworten haben.
Der Film ist bei den Personen im Film und auch beim Publikum dort angesiedelt, wo das Leben erst wird – als reale Utopie für die Schule und die Welt, als Gegenwelt zu Alltag.
Regie und Kamera gehen so nahe an die Protagonist*innen im Film und schliesslich an die Zuschauer*innen vor der Leinwand.
Hier haben wir einen Dokumentarfilm, in dem die Zeit erfüllt ist von Schönheit und gelebter Menschlichkeit, die auf uns überspringen, mitleben lassen und mit guten Gefühlen erfüllen.
Das ist ein Film, der die Beziehung zwischen einem Lehrer und den Schüler*innen porträtiert: eigentlich fast ein Ding der Unmöglichkeit; doch ihm gelingt es auf faszinierende Weise.
Alles, was «Herr Bachmann und seine Klasse» in Bildern, Tönen, Gesten, Blicken, mit Montage und Dekor zeigt, ist von der Pädagogik in unzähligen Theorien bestätigt – hier wird es gelebt.
Statt weiter nach Worten zu suchen, um diesem filmischen Wunderwerk näher zu kommen, lade ich Sie persönlich zu dieser Suche ein, die sich, so vermute ich, lohnen dürfte.
Ich wünsche, dass möglichst viele Zuschauer*innen diesen Film in seiner ganzen Grösse und Tiefe erleben. Ich glaube, dass die Zeit, die Sie mit diesem Film verleben, wohl zu Ihrer wertvollsten gehören könnte.
Auch private und intime Fragen kommen zur Sprache
Aus den Anmerkungen der Regisseurin Maria Speth
Dieter Bachmann und ich kennen uns schon seit Jahrzehnten. Nachdem er in Stadtallendorf an der Gesamtschule angefangen hatte, als Lehrer zu arbeiten, erzählte er über Jahre hinweg immer wieder von dieser Stadt und den Schüler*innen der Georg-Büchner-Schule. Ich müsse mir das unbedingt mal ansehen. Die Zusammensetzung der Klasse zeigt die Bevölkerungsstruktur der Stadt. Alle Zuwanderungswellen der deutschen Nachkriegsgeschichte hinterliessen hier ihre Spuren. Heute haben 70% der Einwohner*innen einen sogenannten Migrationshintergrund.
Im Film erlebt man einen Lehrer, der eine persönliche, emotionale Beziehung zu seinen Schüler*innen herstellt. Der sich nicht nur als Wissensvermittler sieht, sondern seine eigene Person mit allen Stärken und Schwächen einbringt, nichts tabuisiert und den Jugendlichen vorurteilsfrei begegnet. Nicht nur als Anspruch der politischen Korrektheit, sondern als gelebte, emotionale Offenheit ohne unterschwellige Ressentiments. Dadurch schafft er eine offene, angstfreie Atmosphäre, in der sich alle sicher fühlen, sich zeigen und entfalten können. Die Schule wird zum Wohnzimmer, zu einem Ort des Vertrauens, in dem alles verhandelt werden kann, was auf der Seele brennt. Mit einem Lehrer, der sie im Gespräch herausfordert, provoziert, ermutigt, kritisiert und bestärkt, der für Solidarität und Empathie wirbt und weiss, dass die Stärkung des Selbstwertgefühls wichtig ist, der all seine Fähigkeiten in die Waagschale wirft, damit sie auch nicht-schulische Fähigkeiten entwickeln können.
Die Liebe zu diesen Kindern keimte schon während der Dreharbeiten, entfaltete sich für mich aber erst so recht bei der Montage. Eine Liebe, die befördert wurde von deren direkter, emotionaler Offenheit und ihren aufscheinenden Potenzialen. So wie Lehrer Bachmann diesen jungen Menschen im Klassenraum die Möglichkeit zur Entfaltung von Fähigkeiten, Schönheit und Würde gibt, wollte ich ihnen das in der Montage geben: Stars zu sein für 217 Minuten.
Lehrer Bachmann und seine Klasse 6b mit Zwölf- bis Vierzehnjährigen. Auf der Eingangsstufe der Gesamtschule sind noch alle Leistungsstufen in einem Klassenverband vereint. Am Ende des Schuljahres erfolgt die Teilung in drei Schulzweige. Viele Schüler*innen stammen aus Familien mit einer Migrationsgeschichte aus insgesamt neun Ländern. Ein Konglomerat unterschiedlichster Kulturen als Folge einer globalisierten Welt. Die Schule macht den Kindern klar, was die Gesellschaft von ihnen erwartet: Leistung. Bei ihnen geht es darum, diese Herausforderung zu überstehen, mit Stolz, Überheblichkeit, Angst oder Minderwertigkeit. Es geht um die Ausbildung ihrer Identität als Persönlichkeiten, aber auch ihrer Genderrolle und ihrer nationalen oder kulturellen Zugehörigkeit. Im Hintergrund grosse Fragen. In diesem sozialen Umfeld arbeitet Herr Bachmann als Klassenlehrer seit siebzehn Jahren, und sein Unterrichten gibt auf diese Fragen besondere Antworten. Für ihn ist das Wichtigste, jedem Kind zu vermitteln, dass es wertvoll ist, dass es jemand ist und nicht nichts.
Neben dem Pythagoras gibt es in dieser Schule auch Musik und Jonglieren
Herr Bachmann möchte auch noch etwas sagen
Es war das erste Mal an einem verschneiten Wintertag, als ich den Schulhof der Georg-Büchner-Schule betrat. Und es traf mich irgendwie unvorbereitet. Ich wusste: Ich wollte eigentlich nicht hier sein! Nein! Von irgendwo her kam Rap Musik und es wuselte und rannte und schrie. Von Weitem sah ich, wie zwei kleine Jungen mich anpeilten. «Hey, wen suchst du? Was machst du hier?» Sie lachten freundlich. «Eh naja: ich glaube, ich soll hier Lehrer werden», scherzte ich. Die Jungen bekamen grosse Augen: «Oh ja! Dann musst du unser Lehrer werden! Wie heisst du?» Ich wollte schon sagen «Dieter», aber ich sagte: «Ich bin der Herr Bachmann!» und sie nahmen mich lachend an die Hand und brachten mich ins Schulsekretariat. Der Lehrer Herr Bachmann war geboren!
Ich habe mich schon oft gefragt, wie mir das passiert ist, Lehrer zu werden. Ich glaube die Schüler der Georg Büchner Gesamtschule in Stadtallendorf haben mir unmissverständlich gezeigt, was für einen Lehrer sie haben wollen: einen, der ihnen Äpfel und Müsli und Döner zu essen gibt, einen, der mit ihnen Fussball spielt, Musik macht, malt und Geschichten erfindet und schreibt, einen der mit ihnen liest, wie die Welt so aussieht und was es zu entdecken gibt, einen, den sie fragen können, was immer sie wollen, aber vor allem einen, der sie nicht abwertet mit Noten, Defiziten. Sie wollen einen Lehrer, der auch gerne in die Schule kommt, mit dem sie lachen und singen und schreien können, einen, der ihnen auch mal sagt, wo es lang geht, wenn die Fäuste geflogen sind und wenn Schwule oder Behinderte beschimpft werden. Im Kern ist es also eine ganz normale Beziehung zwischen Kindern oder Jugendlichen und einem Erwachsenen im Spiegel von: Ich trau dir das zu, das machst du besser nicht, hier geht es auf keinen Fall lang, aber ich vertraue dir, ich weiss du hast es drauf, ich find dich gut.
Die Regisseurin und drei weitere Filme zum Thema
Maria Speth, die Autorin, wurde 1967 in Bayern geboren, lebt seit 1987 in Berlin, arbeitete bis 1995 als Schnitt- und Regieassistentin. Von 1996 bis 2002 machte sie ein Regiestudium an der HFF Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg. 2001 drehte sie ihr mehrfach ausgezeichnetes Spielfilmdebüt «In den Tag hinein». Ihr zweiter Spielfilm «Madonnen» erhielt 2007 den hessischen Filmpreis, 2009 entstand der Dokumentarfilm «9 Leben», für den sie den deutschen Regiepreis Metropolis erhielt.
Drei Dokumentarfilme zum Thema Schule laden zum Vergleichen ein: der französische Film «Être et avoir» von Nicolas Philibert über eine Dorfschule in der Auvergne, der Schweizer Diplomfilm «Neuland» von Anna Thommen und der aus Bhutan stammende Film «Lunana» von Pawo Choyning Dorji über eine Schule am Fusse des Himalaya.
Titelbild: Die Klasse mit ihrem Lehrer Herrn Bachmann