Ich kenne Menschen, die nicht zuhören können. Wo immer sich eine Gruppe zusammenfindet, führen sie das grosse Wort. Sie nehmen jede noch so kleine Mitteilung zum Anlass, auf sich zu lenken und erzählen, was sie ähnlich oder schöner erlebt oder erfahren haben. Zuhören ist für viele nicht einfach, weil sie es nie lernen konnten.
Zuhören lernte ich an unserem Familientisch. Da sprach vor allem der Vater. Er war ein grosser Erzähler. An unserem Tisch sassen stets mehrere Erwachsene. Der Melker Gusti und der Steiner, ein Gelegenheitsarbeiter, manchmal der Küfer und der Metzger, wenn sie auf die Stör kamen. Der Schnapsbrenner kam jeden Herbst mit seiner Destillationsmaschine und brannte Zwetschgenwasser, Kirsch und Schnaps. Einmal sass ein unbekannter Mann am Tisch, ein Jäger, der erzählte, wie sein Dackel einen Fuchs aus der Höhle getrieben habe. Ich erinnere mich an Viehhändler, die um den Preis eines Kalbes feilschten oder die Erstlinge eines Schweinewurfs kauften. Ich erinnere mich, wie in unserem Essraum eine Liegenschaft gekauft wurde, in dem Vater eine Art Moderator spielte. Wir Kinder hatten am Tisch zu schweigen. Wehe, wenn ich mich einmischte. Ich hatte nur etwas zu sagen, wenn ich gefragt wurde. Ich war der Älteste und kompensierte das Schweigenmüssen am Tisch dann bei unseren Spielen und Strassenkämpfen. Dort hatte ich endlich etwas zu sagen.
Später, als ich Gemeindepräsident geworden war, sass ich oft am Stammtisch. Da wurde laut und engagiert diskutiert und oft auch ein wenig über Politiker geschimpft, am liebsten über den Regierungsrat, der regierte in Zug, noch lauter über den Bundesrat, der war so weit weg, dass einer darüber schimpften konnte wie er wollte. Manchmal kam einer an den Stammtisch, der sich an mich wandte und sagte: «Es ist gut, dass ich dich treffe,» und er stellte eine Frage, von der ich annehmen konnte, dass er die Antwort schon wusste. Es konnte sich um ein Gesetz, das zur Abstimmung stand oder um ein Projekt einer kleinen Brücke über einen Waldbach handeln. Ich beschloss zuzuhören und sagte: «Wie siehst du denn die Sache?» Er begann zu reden, seine Meinung, länger als mir recht sein konnte, darzulegen, und durch mein Nicken angeregt, noch detaillierter zu werden, bis ich wusste, was er dachte. Ich bemerkte, dass seine Meinung nicht gross von der meinen abwich. Ich musste nur noch bestätigen, dass ich seiner Meinung sei. Das trug mir das Kompliment ein, ich sei einer, mit dem man reden könne oder vielleicht, wenn sein nächster Gesprächspartner nicht der gleichen Partei angehörte, ich sei wenigstens einer, der noch zuhöre. War ich gegenteiliger Meinung, wandte ich die Methode des Sokrates an, der mit Fragen die Meinung eines Zweiflers zu ändern versuchte. Manchmal dachte ich, wenn geschimpft wurde, lass ihn plappern, und rauchte meine Brissago fertig.
Was ich in meiner Kindheit lernte, war nicht nur zuhören, es war auch horchen. In einem alten Bauernhaus, wo die Holzwände knackten, wo manchmal Mäuse über die Diele trippelten, in der Chuscht das Feuer knisterte, im nahen Stall ein Tier laut plärrte, war das Ohr stets auch auf Horchen eingestellt. Mit Horchen kommt man hinter die Dinge. Wer horcht, hört heraus, was ein Wort wirklich meint. Zuhören war schon uns Kindern auch Horchen. Als Bub hörte ich den Vater reden, aber ich horchte auch hinter seine Worte. Was meinte er, wenn er sagte, was von Bern komme, müsse man ablehnen; wenn er am Sonntag am Tisch behauptete, der Pfarrer habe auf der Kanzel viel zu lange geredet. Das habe er schon ein Leben lang gehört. Man musste doch hinter Vaters Worte kommen und zu verstehen versuchen, was er meinte. Wer nicht horchen kann, ist ein schlechter Zuhörer.
Ein so nachdenklicher wie anschaulicher und vor allem bedeutsamer Text