Unsere Sinne schenken uns die Möglichkeit, Personen, Gegenstände und unsere Welt wahrzunehmen. Dabei kommt dem Tasten eine ganz besondere Bedeutung zu. Der Tastsinn ist die Grundlage der Wahrnehmung. Vor jeder Meinung, jedem Denken und vor all den Ideen sind die Sinne tätig. Schauen wir den Kindern zu, wie sie sich ins Leben tasten. Jede Mutter spürt, wie der Säugling ihre Nähe sucht. Er will liebkost und umarmt werden und sich geborgen fühlen. Er tastet alle Dinge, die greifbar sind, ab und spielt mit ihnen. Er wirft ein Spielzeug weg und die Mutter gibt es ihm zurück. Er befühlt mit den Fingern das Material, aus dem sie hergestellt sind. So gewinnt der Säugling jene Vertrautheit, die zum Fundament seines Lebens wird.
Zwischen meinem und dem Haus des Nachbars stand ein Kirschbaum, und da gerade Winter ist, erinnere ich mich, wie die Kinder meines Nachbarn, noch sehr klein, durch den kniehohen, noch unberührten Schnee stampften. Ich beobachtete, wie sie sich an das flockende Weiss herantasteten und mit Lust einen Weg bahnten. Als sie die erste Spur gezogen, den Weg durch einige Rundgänge um den Baum getrampelt hatten, fingen sie an, sich jubelnd zu verfolgen. Sie liessen sich fallen, bewarfen sich schliesslich mit Schnee und balgten wie Welpen. Mich bewegten diese Entdeckerfreude und die Lust, mit der sie sich vergnügten. Vortastend hatten sie Neues entdeckt. Dass sie sich derart lustvoll ihrem Tun hingaben, musste damit zu tun haben, dass sie spürten, dass sie etwas bewegen, gestalten konnten. Sie hatten sich als Urheber entdeckt.
Der Säugling beginnt noch unsicher nach Gegenständen zu greifen und sie zu befühlen. In der vierzehnten Woche etwa beginnt sich der Tastsinn mit den anderen Sinnen zu koordinieren. Ohne die frühe Übung des Tastens versiegt das Fühlen. Ich erinnere mich, wie Vater befruchtete Eier auf den warmen Kachelofen legte. Als sich die Küken aus den Schalen pickten und im Korb piepsten, führte Mutter uns Kinder zu ihnen. Ich durfte eines der flaumigen Wesen mit beiden Händen sanft umfassen. Mutter sagte: «Nicht drücken! Die Bibeli sind noch schwach.» Ich musste meine Kraft zurückhalten. Oft fällt mir diese Szene ein. Sie macht mir bewusst, dass das Zarte und Sanfte einen Verzicht von Gewalt und Aggression voraussetzt. In ähnlichen Szenen, wie mit den Küken, bildet sich das Gemüt des Kindes aus. Es schwingt mit den Dingen und bindet sich an sie. Es entsteht jene Empathie, die stets auch von der Gegenseite herdenkt.
Manchmal frage ich mich, wenn ich lese und beobachte, wie Menschen grob und aggressiv miteinander umgehen, ob sie nicht Chancen hatten, sich ans Leben heran zu tasten. Es fehlte ihnen vielleicht der zarte Umgang mit den Dingen und mit den Menschen. Vielleicht war für sie schon früh selbstverständlich, dass sie Herrscher ihres Umfelds sein konnten. Sie mussten keine Sorge tragen zu dem, was sie erhielten oder sie mussten sich alles erstreiten. Im Konsum blüht nicht jene Freiheit, die man sich gerne einbildet. Was immer unmittelbar vorhanden ist, verliert den Charme. Das bewusste und sorgfältige Herantasten an Menschen und Dinge verstärkt die Beziehung und vermehrt ihren Wert. Zärtlichkeit ist eine Gabe des tastenden Gefühls. Tasten ist nicht einfach ein Beherrschen. Achtsamer Umgang mit Mensch und Natur ist nur möglich, wenn der Mensch sich zurücknimmt, seine Kraft bändigt und sich sowohl in Handlungen wie in Worten herantastet. Vielleicht sind verbale Ausrutscher eine Folge des schnellen Habens. Tasten und Fühlen versagen oft, weil Haben so selbstverständlich geworden ist.