FrontKolumnenÜbers Jammern auf hohem Niveau

Übers Jammern auf hohem Niveau

Diese Kolumne beginnt in der Vergangenheit und endet in der Gegenwart. Meine erste Ehefrau war Deutsche. Sie wurde 1944 in Pforzheim geboren. Ich nenne sie hier Sophia. Sie hiess anders. Ihr Vater beendete den Krieg als Obergefreiter. Daraus lässt sich ableiten, dass er weder ein eifriger Soldat noch ein überzeugter Nazi war. Aus Polen brachte er Wodka nach Hause, aus Frankreich Parfum. Aus Russland kam der Vater kaputt zurück, verwundet und mit malträtierter Seele. Nachts schrie er im Schlaf.

Am 23. Februar 1945 bombardierten fast 400 Flugzeuge Pforzheim und überzogen die Stadt mit einem Feuersturm. Sophias Mutter und mehr als ein Fünftel der Einwohner starben. Sophia überlebte, verschüttet, an der Seite ihrer toten Mutter. Das Mädchen kam in ein Heim, erlitt den Hunger- und Kältewinter 1947/48, spielte zwischen Ruinen und überstand trotz zusammengebrochenem Gesundheitswesen die üblichen Kinderkrankheiten. Als Achtjährige brachte sie der Vater zu Verwandten nach Zürich. Dort wuchs sie auf. Ganz normal und angemessen pubertierend.

Kinder auf Schulweg durch das Trümmerfeld beim Hamburger Schaartor 1945.

Mädchen und Knaben in der ganzen Welt mussten mit ähnlich miesen Bedingungen starten. Zwar hatten viele gesundheitliche Probleme, litten unter Mangelernährung, manche auch unter psychischen Beeinträchtigungen. Die allermeisten Kriegskinder jedoch boxten sich mit Elan durch die Besatzungszeit. Sie lernten in bombengeschädigten ungeheizten Klassenzimmern. Sie wohnten in zerstörten Wohnungen. Und sie landeten unbeschadet in den zugegeben miefigen Fünfzigerjahren, zufrieden bis glücklich.

Nun zur Gegenwart. Kürzlich hat die Schule wieder begonnen. In vielen Kantonen müssen die Kinder ab der ersten Klasse Masken tragen. Sofort reagierten empörte Erwachsene. Eltern beklagen, dass kaputte Kinder in die Gesellschaft entlassen werden. Sie befürchten, dass die Entwicklung ihrer Sprösslinge leidet. Sie vermuten, dass die Masken zu Gesundheits- und Verhaltensstörungen führen. Ach ja? Vor mehr als siebzig Jahren spielten Sophia und ihre Zeitgenossen in Ruinenwüsten, froren sich durch den Winter und tranken dünne Suppen. Ohne Trauma.

Während des Lockdowns mussten in der Schweiz die Schüler einige Wochen zuhause bleiben und per Fernunterricht lernen. Jetzt befürchten Eltern emotionale Schlagseiten, unaufholbare Wissenslücken und Beziehungsdefizite. Ach ja? Während und nach dem Weltkrieg fehlten die Väter und manche Mütter versuchten per Prostitution die hungernde Familie sattzukriegen. Sophia und ihre Kameradinnen und Kameraden erlebten handicapierte Lehrer, gestörte Verwandte, Pausenplätze mit Bombentrichtern, mussten Kohle vom Bahngeleise klauen und überstanden den Schwarzmarkt samt Schiebereien. Unbeschadet.

Ich verstehe, dass Eltern Sorgen haben. Auch heute. Doch wenn es ein zuverlässig geeichtes Kummerbarometer gäbe, müsste dieses ein sehr grosses Spektrum abdecken. Oder ganz einfach: Wir jammern heute auf sehr hohem Niveau.

Bild: Wikimedia

7 Kommentare

  1. Danke, Peter Steiger für diesen Artikel übers Jammern auf hohem Niveau. Wie gut werden Kinder und Jugendliche aufs wirkliche Leben vorbereitet, wenn man ihnen jegliche kleinsten Hindernisse und Schwierigkeiten aus dem Weg räumt?

  2. Danke für diesen schriflichen Einblick Herr Steiger. Ein sehr eindrücklicher Bericht über eine Zeit, die viele von uns nicht kennen. Gut dies mal so zu lesen, wie sich Realitäten auch zeigen können, mit welchen ‹Massnahmen›, besser wirklich schwierigen Umständen viele schon leben mussten…

    Auch nach dieser Zeit gab es für viele Menschen immer wieder schwierige Zeiten. Das kann sogar philosphische betrachtet werden… Was heisst ein Leben leben, was heisst Umstände aushalten in bestimmten Phasen de Lebens, usw… Das gelingt auch gut mit Reflektionen eben z.B. in vergangene Leben, was auch viel zu einer hilfreichen Relativierung beitragen kann.

    Ich frage mich manchmal wirklich, auf was für einer ‹abgehobenen› Ebene in der aktuellen Zeit eigentlich geschimpft, kritisiert, gejammert wird. Mir erscheint ein solch externalisierendes Verhalten u.a. tatsächlich als Realitätsverlust…

    Bei all diesen Diskussionen habe ich mich stets zurückgehalten. Ich habe einen für mich gut gangbaren Weg in dieser Pandemiezeit gefunden, mit welchem ich sehr gut leben kann und nicht daran leiden muss! Ich verstehe vieles, vieles mittlerweile jedoch auch nicht mehr…

    Bei der aktuellen Situation, wie auch immer diese verstanden wird, frage ich mich, um wie viel besser wir diese hätten ‹ertragen› und meistern können, mit etwas mehr Zusammenhalt und einem Bemühen um ein bewussteres und allumfassenderes Verständnis…

  3. Sehr geehrter Herr Steiger, Ihr Artikel gehört auf die Frontseite aller Tageszeitungen!
    Freundliche Grüsse Susanna Sägesser

  4. Sie sprechen mir aus dem Herzen Herr Steiger! Das haben wir (mein Partner und ich) schon manchmal besprochen und gemeint, wenn die heutigen Kinder und Jugendlichen das hätten erleben müssen, was wäre dann ……….?! Vermutlich hätten Psychiater und Kliniken noch mehr Zulauf. Heute sind viele Jugendliche und junge Erwachsene (es gibt selbstverständlich auch Ausnahmen) verwöhnt von allen Seiten und man versucht sie von aller Ungemach fern zu halten.

  5. Meine beiden Grossmütter: Klara und Marie wurden beide 1900 geboren und haben zwei Weltkriege miterlebt. Fast 10 Jahren ihrer Leben – im 1. Weltkrieg auch als adoleszente Jugendliche – waren von grossen Entbehrungen und massiven Einschränkungen geprägt. Eingekauft wurde jahrelang mit Lebensmittel-Kupons. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, dass die Menschen deswegen psychischen Schaden genommen hätten. Im Gegenteil, es hat sie bescheiden und genügsam gemacht. Wir haben mittlerweile ein derartiges Wohlstandsniveau erreicht, dass ein Verzicht auf die unmittelbare Befriedigung jeglicher Begehren, vorallem bei Jugendlichen, als massiver Einschnitt empfunden wird. Dabei wäre ein Einhalten von diesem ungesunden «Instant Satisfaction Trip» für alle auch eine Chance gewesen. Auch eine Aufgabe und Vorbildfunktion der Erwachsenen und Erziehungsverantwortlichen. Mal das Mobiltelefon abstellen, zusammen eine Liste der Bücher machen, die man – auch als Jugendliche – gelesen haben sollte…und sie dann lesen! Mal Rezepte zusammentragen und zusammen einkaufen und kochen usw. usf. Ja jammern auf höchstem Niveau ist eine der Untugenden der Schweizer, die mich auch am meisten betrübt und beschämt.

  6. Sie sprechen auch mir aus dem Herzen, Peter Steiger. Als Kind in Berlin habe ich Bombennächte erlebt, die uns nächtlich mit Sirenengeheul aus dem Tiefschlaf rissen und einen Run des ganzen Hauses in den Keller auslösten. Am Ende des Krieges jagte mir eines Tages die so genannte «Stalin-Orgel» einen Mordsschreck ein. Das war ein Kordon von Kanonen, die alle gleichzeitig schossen. Ein kleiner, improvisierter Ofen beheizte nur das Wohnzimmer, wir hatten nichts Warmes anzuziehen, Frostbeulen an Händen und Füssen, meine Mutter nähte unsere Kleidung. Es gab nur wenig zu essen. Meine Mutter improvisierte, stellte z. B. Leberwurst aus Hefe und Majoran her. Oder sie tauschte Schmuck oder Teppiche gegen Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt. Wir hatten kein Spielzeug. Statt dessen balancierten wir auf Mauerresten ausgebombter Häuser und sammelten Patronenhülsen. Fremde Sender im Radio zu hören, war strengstens verboten und gefährlich. Der Nachbar hörte mit. Die Schulen waren zu. Als sie aufgingen, hatte unser Deutschlehrer eine Beinprothese. Haben wir einen psychischen Schaden erlitten? Möglich. Aber wir haben auch Verzicht gelernt und wissen, dass das Konsumparadies keine Selbstverständlichkeit ist.

    Heute haben wir es warm, sind satt, haben Kleidung, können (bzw. könnten) uns rundum informieren und versuchen, uns und andere so gut wie möglich gegen eine Corona-Infektion zu schützen. Unsere Enkel lernen gerade, dass es im Leben keinen Anspruch auf ein Paradies gibt und dass man versuchen muss, damit klarzukommen, so grausam das im Einzelfall auch sein kann, wenn z. B. ein Familienmitglied ernsthaft an Covid-19 erkrankt.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Beliebte Artikel