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In nihilistischer Zeit

Wir leben in einer nihilistischen Zeit, die weit über den Nihilismus eines Nietzsche hinausgeht. Er bezweifelte die Wahrheit der Religionen und fasste seinen Zweifel in den Satz: «Gott ist tot.» Der Nihilismus unserer Zeit besteht hingegen darin, dass viele Menschen nicht mehr an Wahrheiten glauben. Der simple Satz, alles ist relativ, wird im Sinne gedeutet, dass man die Wahrheit nicht erkennen könne. Halten wir uns  an blosse Sätze, ist es unsicher, ob sie wahr oder unwahr sind. Sätze können lügen. Wahrheit gewinnen wir, wenn wir uns mit den Geschichten, in denen Sachverhalte vorkommen, befassen.

In Russland ist verboten zu sagen, es herrsche Krieg in der Ukraine. Wer das Wort Krieg braucht, wird streng bestraft und kann bis 15 Jahren ins Gefängnis kommen. Der propagierte Wortlaut des Regimes lautet, es handle sich um eine «militärische Operation». Man würde einen gefährlichen Faschismus mit einem Nazi-Regime an der Spitze bekämpfen. Dass dies eine Lüge ist, entlarven die Geschichten. Städte werden bombardiert und erobert. Es sterben jeden Tag unzählige Menschen und Millionen sind auf der Flucht. Die Ukraine ist in eine Kriegsgeschichte verstrickt worden. In dieser Verstrickung erkennt man, was in Wahrheit passiert. Wer mitten in den Geschichten dieses Abwehrkampfes steht, weiss, dass die Propaganda des Kremls unwahr ist. Ein Flüchtling wird nicht verneinen, dass ihn der Krieg vertreibt. Es kann sich in seinem Land also nicht um eine blosse militärische Operation handeln.

Ähnliche Verbiegungen der Wahrheit tauchten in der Zeit der Pandemie auf. Es wurden Verschwörungstheorien unterschiedlicher und phantastischer Art herumgeboten. Die Menschen wurden durch Covid in Geschichten verstrickt. Ging man diesen Geschichten nach, offenbarte sich das Virus als ein gefährlicher Krankheitserreger. Mit den Verschwörungstheorien wurden Menschen fehlgeleitet, so dass sie bereit waren, gegen die Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu demonstrieren. Zahlreiche Freundschaften gingen im Widerspruch zu den «Glaubenslehren» in Brüche. Hätten die Demonstranten die Krankheitsgeschichten genauer verfolgt, wären sie wohl überzeugt worden, dass die Impfung und die weiteren Massnahmen sie schützen konnten.

Wilhelm Schapp* legt eine Philosophie vor, in der er das «In-Geschichten-verstrickt-sein» als Fundament des Menschseins betrachtet. Das Interessantes an Menschen sind seine Geschichten. Wer einen Menschen kennen will, muss seine Geschichten kennen. Der Pfarrer im Religionsunterricht behauptete, er wisse, wer einer sei, wenn er erfahre, mit wem er gehe. Dieser Satz darf zwar als wahr bezweifelt werden, aber er führt in die Nähe von Wilhelm Schapp, der in seinem Werk darlegt, dass Geschichten offenbaren, was ein Mensch ist. Ohne Geschichten steht jeder Mensch im leeren Raum. Ein Hochstapler, dessen Geschichten man nicht kennt, kann schön daherreden und hat leichtes Spiel Menschen zu täuschen.

Jeder Krieg beginnt mit Worten. Worte haben die Aufgabe, die Stimmung vorzubereiten, um eine «militärische Operation» dem Volk annehmbar zu machen. Die Geschichten, die diese «Operation» bewirken, legen die Wahrheit frei und die ganze Welt erkennt, dass es sich um einen Aggressionskrieg in der Ukraine handelt. Geschichten entlarven die Lügen des Kriegstreibers. Worte und Sätze können also lügen. In Geschichten tritt die Wahrheit ans Licht.

Es werden zurzeit unbewiesene Sätze entfesselt und sie schwirren durch die virtuellen Netze, sodass in vielen Köpfen ein Wirrwarr entsteht. Wir sind zunehmend orientierungslos und wissen nicht, woran wir uns halten sollen. Wir werden überflutet von Informationen, die sich widersprechen, und sie bleiben leere Sätze, solange sie nicht durch Geschichten überprüft werden können. In der Folge schwindet der Glaube, dass es Wahrheiten gibt. Ohne das Festhalten an Wahrheiten, die Geschichten offenbaren, breitet sich ein zerstörender Nihilismus aus. Prüfen wir uns selbst, in welche Geschichten wir verstrickt sind.

*Wilhelm Schapp, Philosophie der Geschichten

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2 Kommentare

  1. Ein spannendes Thema: Nihilismus und die Verstrickungen im eigenen Leben. Irgendwie hängt alles mit allem zusammen. Beim Lesen Ihrer Kolumne sah ich plötzlich eine grobmaschige Lismete vor mir. Ich kreierte laufend neue Maschen, hängte sie zusammen, bis ein Maschenbild entstand. Meine Handarbeitslehrerin in der Schule rügte öfters meinen Lismistil, der von meiner jeweiligen Stimmung abhing. Ich konnte von «sehr schön» bis «wüescht» und gehörte deshalb bei ihr nicht zu den Begabten. Auch das ist eine meiner Geschichten…

    Vor der Pandemie hätte ich es nicht für möglich gehalten, was Worte im Internet bewirken können. Ich war schockiert, was für Abgründe sich da auftaten und ich habe mich gefragt, woher diese unglaubliche Wut und Agression herkommt. Da ich die Menschen, die z.B. Morddrohungen gegen Andersdenkende formulierten, meistens anonym, nicht kenne, konnte und kann ich dies nicht einordnen. Das geht sicher vielen so und es verbreitet Angst und Unsicherheit. Für mich bleibt nur, die Auswüchse im Internet zur Kenntnis nehmen und die Dosis zu bestimmen, die ich mir zumuten will und kann.
    Wohin führt uns diese neue «Freiheit» im Netz alles zu verbreiten, was uns gerade so ins Hirn fliegt, ohne gross darüber nachzudenken? Es braucht unbedingt eine staatliche, besser noch, europäische Regulierung was geht und was nicht geht. Die Grossabzocker und Internet-Milliardäre wie Google, Amazon & Co. meide ich seit langem und überlege gut, wem ich meine Daten und mein Geld überlasse. Die Menschen sind sich viel zu wenig bewusst, was sie mit ihrer Stimme (Klicks), ihrem Geld (Einkauf) und mit ihren Spuren im Internet anrichten.

    Um sich sicherer zu fühlen und sich eine breit abgestützte und seriöse Meinung zu bilden, braucht es demokratisch festgelegte Regeln, an die sich alle zu halten haben. Alles andere führt in Abhängigkeit, in die Anarchie und ins Chaos.
    Die Erschütterungen durch Pandemie und Krieg in Europa, geben uns die Chance, unsere Ansichten und Meinungen zu prüfen und ev. zu ändern, politisch die Weichen neu zu stellen, Regeln anzupassen. Welchen Weg wir einschlagen und für welche Werte wir als Staat und als Einzelpersonen einstehen, wird die Zukunft zeigen.

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