Die Zürcher Klarinettistin Elisabeth Ganter blickt auf über acht Jahrzehnte Musikleben zurück. Jetzt verabschiedet sie sich vom Publikum und erhält eine spezielle Auszeichnung.
«Am 24. Juni 2022 werde ich in Bad Wörishofen (D) von der Künstlergilde Esslingen mit dem Johann-Wenzel-Stamitz-Preis geehrt. Ich habe dort im barocken Klostersaal St. Sebastian viele Male Konzerte gegeben. Ein wunderbarer Ort! Für mich wird es ein krönender Abschluss meines Künstlerlebens sein. Denn es ist an der Zeit, dass ich aufhöre. Ich habe in meinem Leben unzählige Konzerte gegeben. Noch im Jahr 2020 – mit 80 Altersjahren – waren es allein 30 Adventskonzerte in der Schweiz. Ein Fagottist aus Rumänien und ein Pianist aus Prag waren meine Partner. Ich habe alle Auftritte selbst organisiert, von der Planung bis zur Unterbringung der Musikkollegen. Nun ist es genug.
Elisabeth Ganter hat ihre Karriere als internationale Musikerin abgeschlossen. Aber die Klarinette hat sie keineswegs beiseite gelegt.
Vor allem in meiner zweiten Lebenshälfte habe ich als Klarinettistin die halbe Welt bereist. In der ersten war ich für die Familie da. Ich habe drei Kinder – zwei Söhne und eine Tochter. Bis sie erwachsen waren, konzertierte ich vor allem in der Schweiz und unterrichtete gleichzeitig an der Musikhochschule Zürich. Wegen Zimmermangel durfte ich zu Hause unterrichten.
Ein Zeitungsausschnitt aus dem Appenzellerland, betitelt «Eine Familie lädt zum Konzert». Christoph (17) Violoncello, Michael (13), Violine, Regula (19), Violine, Vater Camille, Fagott, und Mutter Elisabeth, Klarinette; alle Kinder gewannen schon in jungen Jahren bei Wettbewerben.
Nie habe ich den Einsatz für meine Kinder bereut. Ich hatte viel Freude mit ihnen und konnte meine Leidenschaft für die klassische Musik voll mit ihnen teilen. Wir haben gesungen, improvisiert und als Familie inklusive Vater gespielt. Später wurden beide Söhne Ärzte. Die Tochter wurde Berufsmusikerin. Zusammen mit mir hat sie viele Jahre an Konzerten im Ausland gespielt, bis sie sich einem anderen Lebenziel widmete. Sie arbeitet in einem Hilfswerk für Strassenkinder in Addis Abeba (Äthiopien) und hilft Kindern, aus den Slums herauszukommen.
Als mein jüngster Sohn 15 Jahre alt und im Gymi war, sagte er zu mir: «Jetzt musst du mich keine Vokabeln mehr abfragen. Du kannst jetzt besser deine Sachen machen. Aber ich möchte gern mal mit dir auf Konzertreise nach Brasilien gehen.» Da ich in Brasilien keine Kontakte hatte, besorgte sich mein Sohn im Musikgeschäft Jecklin etwa 1000 Adressen von Konzertveranstaltern, speicherte sie auf seinem Atari-Computer ab und sandte allen einen Rundbrief, in dem er schrieb, dass wir ein Trio – Geige, Klarinette und Klavier – seien und gern in Brasilien konzertieren möchten. Einzige Bedingung seien die Organisation und Zahlung der Übernachtungen, Verpflegung und Flüge zum jeweiligen nächsten Konzertort. Dem Schreiben legte er einige meiner Kritiken bei.
Wir bekamen 30 Anfragen, aus denen mein Sohn eine Route durch ganz Brasilien zusammenstellte. Mit Beginn im Jahr 1988 gingen wir jedes Jahr viermal auf Konzerttournee nach Brasilien. Als wir das erste Mal in Richtung Rio de Janeiro im Flugzeug sassen, lernte mein jugendlicher Konzertagent aus einem Pons-Sprachlehrbuch Portugiesisch. Ich studierte währenddessen die Noten, worauf mein Sprössling wohlwollend meinte: ‘Du spielst sicher sehr gut. Aber hättest du schon vor einem Monat so intensiv gelernt, wärest du jetzt super. ‘ Wir sind alle begabt in unserer Familie, aber deshalb auch träge und ein wenig faul. Ich denke heute, dass er damals etwas ganz Wichtiges gelernt hat, denn er hat seither immer viel gearbeitet und auch viel erreicht.
Brasilien war der Auftakt für mich zu einem regelrechten Durchstarten in den Rest der Welt, durch ganz Europa, in die USA, immer wieder nach Südamerika, darunter Argentinien und Peru, nach Indien, Japan, China, Taiwan, Malaysia, Australien… Ich leitete Meisterkurse – zum Beispiel in Schanghai, Tokio, Sao Paulo, Sydney etc. – und spielte als Solistin mit Orchestern, sowie Duo-, Trio- und Quintettkonzerte mit Musikern im Ausland oder aus der Schweiz. Viele Schallplatten, CDs und Radioeinspielungen entstanden, darunter 20 verschiedene Klarinettenkonzerte. Auch nach Mariupol in die Ukraine führte mich meine Konzerttätigkeit. Es macht mich sehr traurig, dass auch dieser schöne Ort mit seinen weltoffenen Menschen zurzeit in Schutt und Asche gelegt wird. Unter den Werken, die wir spielten, waren viele Ur- oder Neu-Aufführungen von Kompositionen, die ich auch in Bibliotheken ausgrub. Mein Repertoire ist entsprechend vielfältig.
Einmal spielten wir an einem Festival ein zeitgenössisches Werk, das nicht in Noten aufgezeichnet war, sondern nur graphische Anleitungen enthielt und der Improvisation viel Raum gab. Das Klavier war auf eine andere Stimmung und einen veränderten Klang präpariert. Wir Spieler verabredeten bestimmte Takte, an denen wir uns wieder treffen wollten. Erschwerend hinzu kam: Es gab nur drei Proben. Auch mussten wir das Werk vor der Uraufführung dem Komponisten vorspielen, was uns eine gehörige Portion Lampenfieber bescherte. Doch der Komponist, der extra von Australien für die Aufführung im Mannheimer Schloss angereist kam, fand es wunderbar. Das Konzert wurde später in Deutschland im Radio gesendet.
Das «Trio con voce» auf Tournee in Italien: Christa Kägi, Sopran, Claudio Cozzani, Klavier, und Elisabeth Ganter, Klarinette.
Und heute? Altersgebresten? Ja, natürlich. Zum Beispiel im Rücken. Und im rechten Daumengelenk, das die ganze Last der Klarinette trägt, habe ich Arthrose. Ein Grund mit, weshalb ich meine Konzerttätigkeit beende. Meine freie Zeit nutze ich, um die vielen Konzertreisen mit Fotos, Programmen und Eindrücken in Alben zu versorgen. Dabei erlebe ich alles noch einmal. Es macht mich sehr glücklich.
Mit dem Pianisten Stanislav Bogunia aus Prag hat Elisabeth Ganter die halbe Welt bereist und über 30 Jahre zusammen gearbeitet.
Wenn Sie mich fragen, ob ich genau dieses Leben noch einmal wählen würde, kann ich nur aus vollem Herzen sagen: Ja! Die Klarinette ist mein Instrument. Das zeigte sich früh in meiner Kindheit. Da hatte ich Klavierunterricht am Konservatorium Zürich, Rhetorikunterricht, Gitarren- und Singstunden. Doch das Klavier lag mir nicht, und der Lehrer kam häufig zu spät. Ich langweilte mich, bis er kam. Da hörte ich eines Tages im grossen Saal, wo ein Orchester probte, ein Blasinstrument, das mich so faszinierte, dass ich meinen Klavierlehrer bat, mir zu sagen, wie dieses Instrument heisst. Und ich teilte ihm mit, dass ich genau dieses Instrument spielen möchte.
Er gab mir einen Anmeldebogen für die Eltern. ‘Nein, du machst eh schon zu viel neben der Schule’, sagten sie. Da war guter Rat teuer. Aber ich erfand eine List. Ich legte den Anmeldebogen für den Klarinettenunterricht meiner Mutter früh morgens, als sie noch im Bett lag, zur Unterschrift vor. Sie unterschrieb blindlings, im Glauben, es gehe um den Klavierunterricht.
Dann kaufte ich vom Spargeld ein billiges, miserables Instrument. Um mir das nötige Geld für den Unterricht zu verschaffen, gab ich in der Schule Nachhilfeunterricht in Mathematik und Physik. Bei meiner Mutter erbat ich zusätzlich etwas Bargeld, damit ich – wie andere Schüler in der Mittagspause – anstatt mitgenommener belegter Brote beim Metzger Verpflegung kaufen konnte. Dieses Geld sparte ich ebenfalls für den Klarinettenunterricht.
Heimlich üben konnte ich auf dem Estrich in unserem alten Haus und morgens um 6.00 Uhr in der Schule. Der Schulabwart schloss mir jeweils auf und liess mich hinein. Als der nächste Musikwettbewerb in der Schule stattfand, war ich dabei und spielte Klarinette. Meine Eltern waren baff. Und gaben zu, dass meinen schulischen Leistungen nicht nachgelassen hatten. Bis anhin war ich ein eher kränkliches Kind gewesen. Doch kaum hatte ich angefangen, Klarinette zuspielen, wurde ich plötzlich gesund, und ich bin es geblieben. Etwas Ähnliches habe ich später bei einem Schüler erlebt, der Legastheniker war. Das bewusste Atmen und Entspannen beim Blasen, das Spüren der Körpermitte, das Fokussieren auf eine Melodie haben – ähnlich wie auch beim Singen – eine heilende Wirkung.»
Titelbild: Elisabeth Ganter
Fotos: Christine Kaiser und zVg
Mehr erfahren zu Elisabeth Ganter können Sie auf ihrer Homepage.
Dort gibt es auch Klangbeispiele.