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Warum Romane lesen?

Es ist schon spannend, dass zwei der grössten Philosophen der griechischen Antike, Platon und Aristoteles, über die Dichtung gegensätzliche Vorstellungen hatten. Platon versuchte zwar auch Theaterstücke zu schreiben, aber sie gelangen ihm nicht. Er verbrannte sie und schrieb darnach die grossen Sokrates-Dialoge. Es ging ihm um das Wesen der Dinge. Was Schriftsteller und Komödiendichter fabulierten, bezeichnete er als Gauklerei. Aristoteles widersprach dieser Ansicht.  Schauspiele, Epen und Erzählungen fand dieser tiefschürfender als die Geschichtsschreibung. Letztere führe Menschen von Fleisch und Blut vor, denen es darum gehe, die Ambivalenz des menschlichen Handelns aufzuzeigen. Am Beispiel der «Antigone» von Sophokles lässt sich das aufzeigen. Die Geschichte des Schauspiels erzählt, wie die Staatsmacht des Königs den Konkurrenten umbringt und eine würdige Beerdigung verbietet. Antigone aber gehorcht dem König nicht, versucht ihrem Bruder ein Grab zu bereiten, wird entdeckt und erleidet ein ähnliches Schicksal. Sophokles stellt ihre innere Not dar. Es ist Aufgabe des Schriftstellers und nicht der Geschichtsschreibung, diese Not verständlich zu machen.

Während die Geschichte quellengestützt Ereignisse darstellt, nimmt sich vor allem der moderne Roman und das Schauspiel der inneren Dramatik des Geschehens an. Sie verwandeln die eine Geschichte in viele. Der König vertritt seine Idee der Geschichte und das Drama schlüsselt sie in viele Geschichten auf. Fragt Platon im Dialog «Das Gastmahl» nach dem Wesen der Liebe, widerspricht ihm der Roman mit vielen Geschichten der Liebe und raubt der einen Geschichte ihre Absolutheit. Was soll das Wesen der Liebe schon bedeuten angesichts der vielen Geschichten? Während der König in der «Antigone» seine Geschichte der Staatsräson vertritt, stellt das Drama dar, dass es in diesem Fall viele Geschichten zu erzählen gibt. Der Philosoph Odo Marquard* würde sagen, es handle sich beim modernen Roman um die Teilung der Geschichte (im Singular) in Geschichten (im Plural). Das ist ein faszinierender Gedanke, weil auch dort, wo eine Geschichte vertreten wird, immer viele Geschichten zu berücksichtigen wären. Der Literatur fällt die Aufgabe zu, die eine Geschichte in viele zu zerlegen. Marquard folgert daraus, dass der Roman für die Gewaltenteilung sensibilisiere, dass niemals eine Geschichte die Wahrheit erzähle, sondern immer nur viele. Diese Teilung der Geschichte in Geschichten disponiere zudem für die politische Gewaltenteilung und damit für die Demokratie.

In Zeiten, wo in autoritären Staaten die Geschichten in eine Lehrgeschichte im Singular umgeschrieben wird, werden Leserinnen und Leser von Romanen zweifeln, ob diese eine Sicht der Geschichte der Wahrheit nahekommt. Sie werden sie bezweifeln und geraten mit der Diktatur in Widerspruch. Kulturschaffenden und in erster Linie Schriftstellerinnen und Schriftsteller werden einerseits in Ländern mit der einen Geschichte zensuriert und verfolgt oder eingesperrt. Nichts fürchten autoritäre Herrscher mehr als Romane. Zu jeder Zeit wurden Schriftsteller von der Staatsmacht ausgezeichnet, wenn sie die eine Geschichte nacherzählten und darin Helden als Vorbilder zeichneten. Das hat sich nicht geändert, und gilt auch heute für Ideen, die versuchen, die Meinungen zu monopolisieren. Das trifft auch auf Verschwörungstheorien zu und auf viele Visionen, die eine absolute Wahrheit beanspruchen.

Verschwörungstheorien vertreten eine absolutistische Wahrheit, die der differenzierten, korrigierbaren Meinung den Rang abzulaufen versuchen. Die Wissenschaft hingegen legt ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit vor, damit sie von anderen Wissenschaftlern verifiziert oder falsifiziert werden. Sie würde sich selber schaden, wenn sie sich als ewige Wahrheit ausgeben würde. In Romanen ist vielfach zu lesen, wie die Protagonisten unter den Umständen, in die sie sich selbst verwickelt haben, sich gezwungen sehen, die Meinung zu ändern. Damit machen die Romane Leserinnen und Leser aufmerksam, dass jede Theorie und jede Vision viele Geschichten umfassen. Skepsis gegenüber Wahrheitsansprüchen sei der Sinn für die Gewaltenteilung *.

*Odo Marquard, in der Festansprache zum 60. Geburtstag von Hans Robert Jauss, Universität Konstanz, 1982

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