StartseiteMagazinKolumnenDie Schweiz im Fokus

Die Schweiz im Fokus

Neutralität: Ein Wort in aller Munde, ein Wort auf allen Kanälen, ein Wort, das herausfordert, gerade auch hier, wo ich mich gerade befinde: in Ungarn. Ich war gerade 12 Jahre alt, als die Truppen der Warschauer Pakt-Staaten 1956 unter dem Kommando Moskaus in Budapest einrückten und den Aufstand der ungarischen Bevölkerung mit Panzern brutal niederwalzten. Ein Flüchtlingsstrom von 200’000 Personen bewegte sich Richtung Westen. 15’000 erreichten die Schweiz. Sie alle wollten dem Terror des Sowjetkommunismus entfliehen und trafen auf eine beispiellose Solidarität. Meine Mutter strickte Socken, wir verkauften auf der Strasse beflissen und völlig überzeugt Schoggitaler.

An das Wort Neutralität kann ich mich in diesem Zusammenhang nicht erinnern. Ganz anders, wenn ich meinen Vater am Wochenende immer wieder auf den Pilatus zu begleiten hatte, mehr oder weniger freiwillig. Meine Mutter packte den Militärrucksack meines Vaters mit dem Nötigsten für unterwegs und für die Nacht, die wir im Stroh in der Alphütte Mülimäs verbrachten, zwei Stunden oberhalb Kriens. Im heutigen Skihaus Mulimäss traf mein Vater seine Kameraden, seine Freunde aus dem Aktivdienst 1939-45. Etwas versüsst wurde mir der strenge Ausflug, die ungewohnte Nacht im Stroh, weil ein Kamerad meines Vaters ab und zu seine Tochter zum Ausflug auf den Pilatus mit Zwischenhalt in der Mülimäs-Hütte zu überreden vermochte.

Nach Älpler-Maccaroni ging es jeweils sehr schnell über zum eigentlichen Grund des Ausflugs: zum Jassen, begleitet von Café Luz, und noch wichtiger, zum Politisieren. Und sehr schnell und immer wieder tauschten sie Erinnerungen an den Aktivdienst aus, und nicht zuletzt zur Neutralität. Geblieben ist mir eine Geschichte, die gerade jetzt wieder neue Aktualität erhält. Sie hatten die Gotthardstrecke an neuralgischen Orten, das Eingangstor des Gotthard-Tunnels, zu bewachen und zu verhindern, dass Anschläge auf die Züge erfolgten. Jede Nacht passierten lange Güterzüge mit verschlossenen Wagen die Gotthardlinie. „Und weisst Du noch, wie wir uns wunderten, wie wir spekulierten, was wohl in diesen Zügen transportiert wurde: Truppen, Verwundete, Gefangene, Juden, Waffen? Gerüchte kamen auf, verstummten nie. „Und weisst Du noch, wie wir reagierten, als vor uns ein Zug stoppte und wir es nicht lassen konnten, näher heranzugehen, um unseren Gwunder zu befriedigen, wie plötzlich ein Schuss fiel, wie wir erschraken und unseren Zugführer erkannten, der in de Luft schoss und uns zurück befahl“. Ein anderer: „Es war ja nur ein Schreckschuss“, und nach einer Pause: „oder doch nicht?“ Die Männer rätselten jedes Mal. Bewahrte uns die Neutralität vor einem Angriff Nazi-Deutschlands oder wurde sie missbraucht, um den Korridor zwischen Deutschland und Italien nicht zu gefährden? Und wie war es mit den Geheimdiensten, die in unserem Land agierten? Doch in einem waren sie sich einig: „Man liess uns Soldaten im Ungewissen“. Aber sie waren sich sicher, dass der Bundesrat die Transporte zuliess, die Neutralität verletzte, um Hitler und seine Getreuen nicht zu provozieren.

Wie immer in grossen Krisen kommt die Neutralität auf den Prüfstand. Für die halbstaatliche US-Helsinki-Kommission ist die Schweiz im Ukraine-Konflikt „eine Gehilfin Putins“. Hier in Ungarn sehen Orbans-Leute unser Land im Schlepptau der USA. Und die Frage an mich: Wie ist es tatsächlich? Damals in der Mülimäss–Hütte hörte ich irritiert zu, heute ist es nicht viel anders. Ich versuche wortreich, die Komplexität, in der sich die Schweiz befindet, zu erklären. Erwartet wird aber hier in Ungarn eine klare Antwort: Steht die Schweiz abseits, ist sie tatsächlich neutral oder ganz auf der Seite der Ukraine?  Oder ganz anders: Ist sie eine “Gehilfin“ Putins, in der Nähe von Ungarns Ministerpräsidenten, bei Viktor Orbán? Überrascht war ich dann aber schon, als wir am Samstag Székesfehérvár (Stuhlweissenburg) besuchten, eine Stadt mit rund 100’000 Einwohnern, 80 Kilometer westlich von Budapest. In der wunderschön hergerichteten Innenstadt stiessen wir auf eine Militärausstellung mit einem Schützenpanzer, Ständen, in denen Soldatinnen und Soldaten im Kampfanzug Waffen zeigten, modernste Kommunikationsmittel erklärten, engagiert für den Militärdienst warben. „Wir brauchen dringend Soldatinnen und Soldaten, Soldatinnen an der Grenze zur Ukraine, um die Flüchtlinge aufzunehmen und um wehrbereit zu sein», meinte ein Offizier auf entsprechende Fragen. Tatsächlich: Interessierte konnten sich direkt vor Ort auf Listen eintragen, sich gar stellen. Umrahmt wurde die Ausstellung von einem Militärspiel, das im Kampfanzug mit Marschmusik durch die friedlichen Strassen zog.

Gott sei Dank: Die Schweiz hat wahrlich andere Probleme. Sie hat keine Grenze zur Ukraine, sie ist umgeben von den stärksten Staaten der EU mit ihren Armeen. Sie steht aber plötzlich im Focus der internationalen Politik. Verliert sie ihren guten Ruf? Hat sie als Land „der guten Dienste“ ausgedient, weil sie als Bankenland, als Ort des Rohstoffhandels, als Schutzinsel Reicher, auch Oligarchen, zu sehr auf den eigenen  Profit bedacht ist, wie ihr unterstellt wird, auch hier? Noch ist sie als Land Henry Dunants ein Staat, in dem die Genfer Konvention entstand und gewährleistet wird, verbunden mit einer treuhänderischen Tradition, die wir zu hegen und zu pflegen haben. Hektische Aktivitäten, wie einige Politiker zurzeit entfalten, in dem sie die Armee massiv aufrüsten, die Neutralität neu definieren wollen, führen nicht weiter. Im Gegenteil. Besonnenheit dagegen schon. Und klare Antworten sind unerlässlich. Der Bundesrat ist gefordert.

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10 Kommentare

  1. Schön, wie Sie uns mit ihren eindrücklichen und bildhaften Schilderungen etwas über Ungarn, seine Menschen und seine Gedanken näher bringen.

    Bei Ihren Erinnerungen an den Vater und seinen Erzählungen über den Aktivdienst während des Zweiten Weltkriegs kommt auch mir so einiges in den Sinn. Es sind jedoch die Geschichten meiner Mutter, die als junge Wirtstochter in Einsiedeln die damals dort stationierten Soldaten zu bedienen und zu unterhalten hatte. Die Fotobücher aus dieser Zeit, die ich immer noch aufbewahre, zeigen anschaulich, dass man(n) in den freien Stunden im Aktivdienst durchaus Positives abgewinnen konnte!

    Das Tagesgespräch auf SRF1 von heute zum Thema «Neutralität als Mittel, nicht als Ziel» mit Daniel Woker, fand ich sehr aufschlussreich und kann es zum Nachhören nur empfehlen. Hier der Link:

    https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/daniel-woker-neutralitaet-als-mittel-nicht-als-ziel?id=12188154

  2. 1) Es wäre für die Debatte hilfreich, wenn öfters differenzierter und faktennäher geschrieben würde, anstatt Clichés und Gemeinplätze zu befördern. Wenn es zur Umsetzung der Russland Sanktionen kommt, sind es eben nicht primär die Banken, die nicht umsetzen. Die Medien haben zum Glück für einmal darüber berichtet, wo das Problem bei der Umsetzung des Geldwäschereigesetzes und nun der Sanktionen gegen Russland liegt. Es sind Anwaltskanzleien, die bei ihren Klienten auf dem Anwaltsgeheimnis beharren. Es sind auch Treuhänder und private Vermögensverwalter, welche die Finanzmarktaufsicht praktisch nie kontrolliert hat und wegsieht. Vor bald 10 Jahren wurde das Bankgeheimnis für ausländische Kunden unilateral von der Schweiz aufgehoben und mit 70 Ländern besteht ein automatischer Informationsaustausch. Diese teuren Compliance Auflagen werden aber nur den Banken aufgebürdet und der Gesetzgeber hat es versäumt eben auch die Anwälte, Treuhänder und privaten Vermögensverwalter in die Pflicht zu nehmen und zu beaufsichtigen. Von den mannigfaltigen anderen globalen Möglichkeiten kriminelles Geld zu waschen und am Fiskus vorbeizuschleusen, reden wir auch praktisch nie. Es bestehen über 70 unregulierte Offshore-Finanzcentren, davon über 20 unter UK Flagge, wo sicher russische Sanktionen umgangen werden können. Vom unregulierten Kunsthandel, weiten Teilen des Immobilienhandels, wo selten hingeschaut wird, wo das Geld herkommt…bis zu den Kryptowährungen usw. bestehen viel zu viele Umgehungsmöglichkeiten. Wir müssen aufhören immer nur einseitig die Banken in die Pflicht zu nehmen und sie oft zu Unrecht zu beschuldigen.

  3. 2) Das Schweizer Volk ist auch selber Schuld, wenn so viele Oligarchen aus dem Putin Umfeld sich in der Schweiz niedergelassen haben. Meist auch noch mit Diplomatenpässen von Putin ausgestattet, die dann tun und lassen was ihnen passt. Das Volk hat mit fast 60% der Pauschalbesteuerung für reiche Ausländer zugestimmt und damit ermöglicht, dass die Schweiz nun im Fokus für Putin nahe Oligarchen steht. Bestimmungen der Pauschalbesteuerung, die übrigens von den meisten umgangen werden und diese geschäftlich aktiv sind (s. ua. Vekselberg in Zug) werden geduldet und die Bundesanwaltschaft schaut da konsequent weg. Dafür bei der FIFA, zum Volksgaudi, umso mehr hin. Als Liberaler habe ich diese Pauschalbesteuerung immer abgelehnt und diese ist unfair gegenüber reichen Schweizer Unternehmern, die hier Firmen und Arbeitsplätze schaffen aber der vollen Besteuerung unterliegen.

  4. 3) 3) Und um noch ein weiteres Cliché zu benennen, das angeblich die Reputation der Schweiz gefährde. Der Rohstoffhandel. Diese Branche wurde durch die jahrelange im Rahmen der «Konzernverbots-Initiative» von den linken NGO’s mit Unwahrheiten und linker Propaganda verteufelt. Mir sind Glencore und Co. im globalen Rohstoffgeschäft lieber als die kleinen Kobaltmineure in Kongo usw. die wirklich Kinder als Sklaven arbeiten lassen. Glencore ist übrigens mit Abstand der grösste Steuerzahler in der Schweiz und auch das wurde immer verschwiegen und falsch dargestellt.

  5. Es kann einem schon grausen, wenn wir realisieren, wie der Kapitalismus weltweit funktioniert. Ich habe schon viele Dokumentionen zu diesem Thema verfolgt und bin einfach nur desillusioniert. Die Reichen werden immer reicher und der Mittelstand und die Armen werden immer ärmer.

    Wenn wir eine demokratische und gleichberechtigte Gesellschaft als Ziel vor Augen haben, müssen die Strukturen in Politik und Wirtschaft geändert werden. Wir müssen die Ziele so formulieren, dass nicht einzelne, zu lasten der Allgemeinheit, die Gewinne einstreichen können. Das funktioniert, zum Beispiel mit einer gerechteren Besteuerung der Einkommen, Vermögen und Erbschaften. Aber auch der doppelbödige Export, zum Beispiel von Kriegsmaterial. Es ist doch naiv zu denken, dass diese Materialien nicht auch in Kriegsgeschehen eingesetzt werden. Waffen sind Waffen, auch wenn wir nur ein Schräubchen dazu liefern.

    Ich verstehe absolut nicht, warum die Mehrheit der schweizerischen Politik diese Machenschaften nicht durchschaut oder einfach nicht sehen will. Was erreichen Sie mit ihrer Politik des Festhaltens am Alten, längst überholten? Sehen sie denn nicht, wohin uns dieses Denken und Handeln geführt hat? Wir haben weltweit ein Ungleichgewicht in sozialen und wirtschaftlichen Belangen, auch in der «heilen» Schweiz.
    So ungern ich dies schreibe, die Schweiz hat sich zum duckmäuserischen Profiteur entwickelt und vergessen oder, vielleicht auch nie so gesehen, zum überheblichen und selbst überschätzenden Kleinstaat entwickelt. Ich bin mir bewusst, dass die Schweiz sehr viel finanziell und ethisch für andere, notleidende Länder tut. Aber die Politik in unserem Land scheint mir so arrogant und nicht konsensfähig, dass ich im Moment einfach nur schwarz sehe.

  6. Herr Herren erklärt hier seit Jahren mit einer Engelsgeduld was Sache ist, aber offenbar wollen die meisten Autoren und Leser dieses Heftlis die Wahrheit nicht wahr haben oder haben ihr Gehirn seit langem offline geschaltet.

    • Ich kann Ihnen versichern, Herr Hanspeter Vogel, mein Hirn war und ist immer on. Und welches «Heftli» meinen Sie? Wir sind doch hier auf seniorweb, wo frau/man die eigene Sicht über die Dinge, die grad abgehen, berichten. Ja, und mit der Wahrheit ist es so eine Sache, es gibt nicht nur die Eine, schon gar nicht die Ihres Herrn Herren? Zur Engelsgeduld könnte ich auch noch etwas sagen, aber ich lass es doch lieber. Ich will ja hier schliesslich niemand beleidigen.

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