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Wenn die Vergangenheit nicht vergeht

In den letzten Jahrzehnten wurde vermehrt darüber geforscht, wie lang Traumata nachwirken. «Mutters Krieg», der Roman des Basler Autors Peter Gisi, erzählt davon.

Eine mittägliche Zugfahrt von Basel nach Zürich eröffnet das Buch Mutters Krieg. Der Autor versucht sich zu entspannen, um der kommenden Sitzung konzentriert folgen zu können, und schaut auf das Wasser der Limmat – «ein aufgeschwollenes tropisches Braun unter dem grauschwarzen Himmel». Darauf beschreibt Peter Gisi die Heimfahrt wiederum mit dem Bild der Limmat: «Fliessendes Silber im grünen Bett. Jemand muss den Fluss in einen Fisch verwandelt haben.»

Die eigenen Gefühle lassen sich zuweilen schwer in Worte fassen. Durch die Beschreibung natürlicher Phänomene, sei es das feuchte Wetter oder das Element Wasser, kann sich der Autor dem nähern, was für ihn nicht leicht zu begreifen ist. Wasser als Ausdruck der Gefühle, eine auch für Vergänglichkeit oft benutzte Metapher, setzt der Autor in seinem Roman geschickt ein.

Wassertreppe beim Flüsschen «Wiese», Lange Erlen, Basel © Myriam Röthlisberger / pixelio.de

Auch die Beschreibung seines Wohnquartiers in Basel, wo das Kind Peter mit seinen beiden Geschwistern aufgewachsen ist, handelt vom Wasser: Regen, der Rhein, ein Planschbecken im Garten, wilde Spiele. Dann kommt Indonesien in den Blick, wo seine Mutter lebte. – Sie liebte das Wasser. Und als Kontrast der Vater, der Schwimmen nicht als Vergnügen, sondern höchstens als auferlegtes Fitnessprogramm ansah.

Mutters Krieg entstand aus dem Bedürfnis des Autors, endlich zu verstehen, wodurch seine Mutter geprägt wurde, weshalb seine Eltern so wenig Verständnis füreinander hatten und was das alles mit ihm, dem ältesten Sohn, zu tun hatte. Peter erzählt in kurzen, präzis formulierten Episoden. Was er über Mutters Krieg und die Folgen für seine Familie – und für seine eigene Entwicklung – herausfindet, verbindet er mit Erinnerungen aus seiner Kindheit. Wie er als kleiner Bub zum Beispiel einmal merkte, dass er den Parkettboden «erforschen» konnte, indem er erst einzelne, dann mehrere Holzklötzchen herausklaubte. – Wie als hätte er schon damals herausfinden wollen, was sich unter der Oberfläche versteckt.

Die überfallartige Besetzung Javas durch die japanische Armee Anfang März 1942 stürzt auf die Leserin bzw. den Leser ebenso erschütternd ein wie auf die Betroffenen. Indonesien ist damals noch eine holländische Kolonie. Mutters Familie, wohlhabende holländische Unternehmer, seit langem in Bandung ansässig, verliert alles. Die Zwölfjährige muss die Brutalitäten der siegreichen japanischen Soldaten ansehen, im wahrsten Sinne des Wortes erdulden und muss Hunger und Erniedrigungen in zwei Internierungslagern aushalten. «Die Lager waren in Basel genauso präsent wie später in den Niederlanden», schreibt Peter Gisi.

Später als Erwachsener fährt der Autor mit einem Tonbandgerät nach Holland, um seine Mutter nach ihren Erinnerungen zu befragen. Diese Berichte fügt er zwischen seine eigenen Kapitel ein.

Die Kriegserfahrungen in Indonesien hatten Mutter Gisi derart geprägt, dass ihre Ehe in Basel zu einem Ehekrieg führte. Es kam zur Scheidung, und die Mutter zog mit den drei Kindern nach Holland zu ihrer Familie. Als Erwachsener kehrte Peter Gisi nach Basel zurück. Als ältester trug er erfahrungsgemäss am schwersten an den Lasten dieser unglücklichen Ehe. In vielen Szenen zeigt sich das, ohne dass Peter Gisi sich als Leidender darstellt. Berührend zu lesen, wie er sich abmüht, schreiben zu lernen. In seiner kindlichen Fantasie sähe er Wörter lieber als bunte Bilder. Im folgenden Kapitel schreibt er: «Lesen ist nicht schwierig. Lesen ist wie Musik hören.»

Peter Gisi © Roland Schmid.

Peter Gisi wurde geboren 1957 und wuchs in Basel und den Niederlanden auf. Er arbeitete als Bibliothekar, Nachtwächter, Werbetexter, Journalist und Buchhändler. Heute leitet er eine Schreibwerkstatt bei der Stiftung Rheinleben in Basel. Peter Gisi veröffentlichte Prosa und Lyrik in Anthologien sowie den Gedichtband Die Berührung der Stadt. – Mutters Krieg ist sein erster Roman.

Mutters Krieg ist leicht und schwer zugleich – darin zeigt sich die Schreibkunst des Autors. Es ist nicht zu leugnen, dass es uns schmerzt, von der japanischen Besatzung in Indonesien zu lesen, gerade wenn wir den täglichen Kriegsberichten aus der Ukraine fast nicht ausweichen können. Peter Gisi findet jedoch den Ausgleich in heiteren, bisweilen komischen Szenen, die ebenfalls zu seinem Leben gehören, in denen sich die Kraft zeigt, die ihm zu innerer Balance und Tiefe verholfen hat. Zwischen Schmerz, Trauer und unerschütterlichem Lebenswillen liest sich dieses kleine Buch gut.

Peter Gisi: Mutters Krieg. Roman. Lenos Verlag 2022. 141 Seiten. ISBN 978-3-03925-019-6

Titelbild: Federleicht. © Marvin Siefke  / pixelio.de

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