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Schlangen und Sirenen

Eine Reise zu den mythologischen Spuren in Kirchen der Toscana abseits der Hauptstrassen des Massentourismus

Wer die Toskana ausserhalb der touristischen Highlights durchstreift, findet unverhofft eine alte Kirche, meist abseits gelegen, und fragt sich nach ihrer früheren Bedeutung. Im Kunstführer findet man vielleicht den Begriff „Urkirche“ oder „chiesa madre“ – eine unvollständige Erklärung. Faszinierend sind die mythologischen Figuren an den Kapitellen, unter anderen Schlangen und Sirenen.

San Quirico d’Orcia im Val d’Orcia: Lachendes Männchen in der Fassade

Diese Faszination führte Silvio Bernardini, einen toskanischen Heimatforscher, dazu, sich für eine solche Kirche in seinem Dorf zu interessieren. Ein lange Zeit unbeachtet Bau, dem Verfall geweiht. Zu diesem Thema hat er drei Bücher publiziert. Eines hatten wir schon auf einer früheren Reise gekauft. Nun wurde es zu unserem Führer auf der Suche nach mythologischen Figuren.

Solch rätselhafte Kirchen wie die von San Quirico d’Orcia gibt es gehäuft im Innern der hügeligen und bergigen Regionen des Monte Amiata, der Montagnola Senese, dem Casentino und der Garfagnana. Bernardini entdeckte ihre Gemeinsamkeiten, bezüglich ihrer Bauweise und auch ihrer Bildersprache. Was sie allesamt verbindet, ist der archaische Charakter, die isolierte Lage, an Mysterien-Kultstätten erinnernd, und die geheimnisvollen Ornamente an den Kapitellen.

Pieve San Giovanni Battista a Ponte allo Spina, südwestlich von Siena an der Strasse SP37

Die erste dieser Pieve genannten Kirchen fanden wir unweit von Sociville. Sie ist seit dem 9. Jahrhundert dokumentiert. Als wir uns ihr näherten fiel eine hellblaue Vespa auf, die vor der Kirche abgestellt war. Also jemand ist da und das Gotteshaus ist zu besichtigen. Alessandro, der im kleinen Vorhof Siesta machte, lud uns herzlich ein und erklärte auf unsere Nachfrage die figürlichen Darstellungen.

San Giovanni Battista: Szene mit Weinranken und Reben (unten), Jagdszene mit Hirsch und Hunden (oben).

In der mythologischen Geographie ist Dionysos die Gottheit der Weinanbau betreibenden Völker. Der Weinstock steht mit seiner Grünkraft für den wiederkehrenden Kreislauf der Kultur. Vielleicht markanter als andere Pflanzen, verliert er fast auf einen Schlag seine Blätter, und es scheint, als trockne er völlig aus, ja stürbe er an der Schwelle des Winters; andererseits erwacht er ebenso schnell und auffällig im Frühling wieder zu neuem Leben.

San Giovanni Battista: Menschliche Figuren in würdevoller Pose

Die Skulpturen an der Aussenfassade von San Giovanni Battista scheinen älteren Datums zu sein, archaischer als jene im Innenraum. Der Drache entspringt aus der Vorstellungswelt – ist eine Schlange mit Flügeln. Schlangen sind in den Pievi häufig anzutreffen. Wir werden uns damit noch näher beschäftigen.

San Giovanni Battista: Links ein kleiner, geflügelter Drache, ihm gegenüber ein gezähmtes wildes Tier, von einem Männlein an der Leine gehalten.

Im Frühling ist die Landschaft der südlichen Toskana leuchtend hell. Die Steineichen mit ihren hellgrünen Blättern, gelber Ginster und roter Mohn abwechselnd mit blauem Borretsch – die Natur prunkt mit Licht und Farben. Vor allem im Val d’Orcia, zwischen Siena, Grosseto und dem Trasimenischen See findet man Zypressenalleen, die meist zu einem Ansitz führen.

Am Strassenrand vor dem Poggio Covili stehen die Autos der Touristen eng nebeneinander – für ein Foto aus dieser Sehnsuchtslandschaft.

Leicht zu finden ist die Pieve SS. Vito e Modesto in Corsignano. Der romanische Bau wurde schon im 8. Jahrhundert erwähnt. Der zylindrische Glockenturm stammt aus dem 11. Jahrhundert und ist – untypisch – von Ravenna beeinflusst.

Corsignano: San Vito südöstlich unter der der Altstadt von Pienza an der SP18

Die Fassade weist ein leicht erhöhtes Portal auf, in dessen Spreizung zwei kleine Säulen stehen – darüber der Architrav mit einer ungewöhnlichen Figurenreihe.

San Vito: Das reich dekorierte Portal mit den zwei Säulen

Links beginnend ist eine kleine bauchige Schlange zu sehen, die sich aus ihrem zusammengerollten Schwanz erhebt. Es folgt eine einschwänzige Sirene, die ein Musikinstrument in der Hand hält. Im Zentrum thront eine weitere Sirene, jedoch mit zweigeteiltem Schwanz, dessen beide Enden sie mit den Händen hochhält. Rechts davon sieht man zwei Frauen, die offensichtlich einen Tanz aufführen. Das Relief wird von einer weiteren stämmigen Schlange abgeschlossen.

Die beiden Sirenen unterscheiden sich markant. Beide haben den Oberkörper einer Frau und einen Fischschwanz; die zweite hat zwei hält ihre zwei Schwanzenden mit beiden Händen, die sie mit den Händen hochhält. Diese Stellung ist demonstrativ und auch verwirrend. Geben wir aber unsere üblicherweise eher schamhafte Einstellung dem Heiligen gegenüber auf, kommt uns ein ganz natürlicher Gedanke: sie will mit dieser Position ihr Geschlecht deutlich herausstellen und so zeigen, dass sie eine Frau ist. So deutet Silvio Bernardini die Figur. Die Sirene ist eine symbolische Figur. Als Meerjungfrau verbindet sie sich im unteren Teil mit dem Wasserelement, von dem alles Leben kommt.

San Vito: Ein Charakteristikum dieser Pieve ist die Wächterinfigur.

Oberhalb des Portals befindet sich ein Pfostenfenster mit einer weiblichen Figur, die vor dem doppelbogigen Fenster über dem Portal die ganze Fassade dominiert. Sie erinnert in Kleid und Pose an eine Bäuerin: Die Hände auf die Hüften gestützt, wirkt sie wie eine Landwirtin, die ihre Felder überwacht.

San Vito: Die zwei kleinen Schlangen wirken wie Schutzgeister

Das einzige figürliches Motiv in der Pieve di Corsignano ist hoch oben in einer Säule eingehauen: zwei kleine Schlangen mit dreieckigen Köpfen, deren Körper ineinander verschlungen sind. Das ist offensichtlich der älteste und ursprünglichste Teil der Kirche.

Wir finden Schlangen in fast allen alten Pievi. Doch ist eine Schlange in einer Kirche nicht eher ungewöhnlich? Ist sie nicht das Symbol des Bösen, der Versuchung, der Sünde? In den Pievi scheint dem nicht so zu sein – das Bild der Schlange scheint eine besondere symbolische Suggestionskraft sowohl im Bösen als auch im Guten zu haben. Die Schlange ist das listigste aller Tiere, die Gott erschaffen hat. Sie versprach den Ureltern die Weisheit, Böses von Gutem zu unterschieden und zu werden wie Gott.

San Vito: Was flüstert die Schlange links aussen der Sirene wohl ins Ohr?

Zurück zum Architraven der Kirche von Corsignano. Bei genauer Betrachtung sieht man, dass die beiden rundlichen Schlangen an den Enden des Türsturzes mit ihrer Zunge das Ohr der Meerjungfrau und der Tänzerin berühren. Dieses außergewöhnliche Bild ist so präzise gestaltet, mit der kleinen Zunge, die sich deutlich abhebt, dass es schwer fällt zu glauben, es sei hier ohne Absicht eine ganz besondere Botschaft eingemeißelt. Eine Deutung ist, die „ohrenleckenden“ Schlangen haben eine Botschaft, sie teilen „Wissen“ mit.

San Quirico: Der romanische und der gotische Baukörper verbinden sich harmonisch.

Die dritte hier vorgestellte Kirche San Quirico unterscheidet sich von den beiden oben besprochenen. Die Kollegiats- und städtische Pfarrkirche wurde mehrmals verändert. Einzelne alte Elemente blieben aber in der Fassade erhalten. Die unterschiedlichen Funktionen veränderten den ursprünglich einfachen Charakter der Pieve, vor allem auch die wohlgestalteten gotischen Portale.

San Quirico: Im Querbalken des Hauptportals begegnen sich zwei Krokodile. Oben in der Lünette thront San Quirico.

Die Pievi sind ein ausserordentlich interessantes ethnologisches und religionsgeschichtliches Dokument. In einer christlichen Hülle kommt hier eine magische Welt von Symbolen zum Vorschein die sich in den steinernen Figuren ausdrückt, in denen sich Spuren antiker Agrar-Mythen mit dionysischen Elementen mischen, mit Spuren der etruskischen Vorfahren und vielleicht auch noch mit einem älteren, allumfassenderen Glauben wie dem an die Grosse Mutter, die Göttin der Natur.

San Quirico: Auch Sirenen mögen sich.

Titelbild: Kapitell in der Krypta von San Flaviano in Monte Fiacone
Fotos: Inge und Justin Koller
Quelle: Bernardini Silvio: Schlange und Sirene. Heiliges und Rätselhaftes in den ländlichen Kirchen der Toscana, Edizione Editrice Donchisciotte. 2005

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