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Wenn das Weiben nicht gelingen will

Farbig, temporeich, ironisch: Mit «Michelis Brautschau» setzen die Freilichtspiele Moosegg die Emmentaler Gotthelf–Tradition fort. Regie führte noch einmal der Berner Jungregisseur Simon Burkhalter.

Jeden Sommer wird auf der Moosegg hoch über Langnau ein Volksstück aufgeführt. Ein grosses Ensemble, bestehend aus spielfreudigen Amateuren und professionellen Theaterschaffenden, spielt auf dem Berg. Im Zentrum stehen Stücke, welche einen starken Bezug zum Emmental und zu seinen Menschen haben oder von den Gegebenheiten der Waldbühne her auf die Moosegg passen. Nachdem in den letzten Jahren Weltliteratur gespielt wurde, widmet man sich in diesem Jahr wieder einem berndeutsches Stück «Heimat»: Gotthelfs Novelle «Michelis Brautschau» erlebt 2022 auf der Moosegg in einer Theaterfassung eine Uraufführung.

Ein beachtliches Ensemble aus Profis und Laien prägt die diesjährige Freilichtproduktion auf der Moosegg.

Das Volksstück wird von nur fünf Darstellenden getragen, die insgesamt über dreissig Rollen spielen. Unterstützt werden sie von einer grossen Statisterie mit Laien aus der näheren und weiteren Umgebung und einem professionellen Puppenspieler (Lukas Schneider). Dieser hat extra für die Produktion einen überlebensgrossen Berner Plüsch-Sennenhund gebaut und haucht dem gutmütigen Tier auf der Bühne auch gleich selber Leben ein. Der Hund entpuppt sich als Michelis bester Freund.

Eine Geschichte, wie sie das Leben schreibt

«Knubel»-Bauer Micheli (Timo Kobel) ist ein Bär von Mann: Arbeitssam, eigenwillig und von kräftiger Statur. Wer ihn provoziert, geht in jeder Rauferei als Verlierer vom Platz, und Raufereien unter Alkoholeinfluss gibt es viele. Denn Michel ist das Ziel von Spott und Hohn im Dorf: Verlacht als Mammihöck, weil er auch im Erwachsenenalter immer noch bei seiner Pflegemutter Anni lebt. Da auch der Jungbauer dem Alkohol zuneigt, warnt ihn seine Ziehmutter: «Wo gfeschtet wird, regiert der Alkohol. Und wo der Alkohol regiert, kommt es nicht gut. Schnaps zerfrisst die Seele.»

Ziehmutter Anni verwöhnt Micheli nach Strich und Faden, lässt ihn nicht erwachsen werden.

Die alte Frau (Danièla Themis) löst sich nur sehr zögerlich und verhätschelt ihren Micheli zu lange nach Strich und Faden. «Dr Michi darf nid ids Ugfell falle.» Aber eine Angst bleibt: Als Ledigem droht der Einbezug in den Krieg. Darum entscheidet er sich zu heiraten. Darauf gibt Anni ihren Widerstand auf. Doch die Suche nach der richtigen Frau gestaltet sich schwieriger als gedacht.

Auf jede «Chilbi» gehört eine handfeste Schlägerei zwischen rivalisierenden Freiern.

Als Micheli auf der «Chilbi» ein Mädchen anlacht, artet die Szene in eine währschafte Schlägerei mit Verletzten aus. «We zwe Süchle dri schlöh, de gits Schnade». Gegen den Willen seiner Ziehmutter geht Micheli weiter «z Chilt». Auf die «Hühneregg», wo er Vreneli und Bäbeli mit seinem ungehobelten Wesen vor den Kopf stösst. Nichts desto trotz stehen Bewerberinnen Schlange, Liebesbriefe treffen zu Hauf auf dem «Knubel» ein. Doch klappen will es trotzdem nie. Obwohl der Hausierer «Lumpeludi» (Roland Schaffer) tüchtig Beihilfe und Ideen liefert.

Selbst auf dem «Stärnengaden», wo die rothaarige Käthi (Sarina Wälti) andere Vorstellungen vom Leben einer Bäuerin hat als der bodenständige Junggeselle, geht der Werbeversuch in die Hose. «So ne Mulaff wie di wott i nid gschänkt.» Und die kecke Frau gibt dem Freier gleich noch einen Rat mit auf den Weg: «Suech Dir e Frou, wo wätterfescht isch, hert schaffet u guet küsst.»

«Stärnegade»-Käthi (stehend) gibt Micheli (links neben ihr sitzend) die Postordnung durch.

Frustriert gibt Michi die Werbeoffensive auf: «Vo hüt a isch usgmüntschelet». Doch sein Knecht Resli (Simon Burkhalter) pflegt eine romantische Beziehung zu Züsi, der Magd auf dem Hof. Und das ärgert den Jungbauern. «Es louft so mänge Ma mit emne Gringe wie nes Chäs-Chessi ume u het glych e Frou.»

Unverhofft kommt Rettung aus der Stadt. Die bürgerliche Wohlstandsdame Augustine Früsching aus der Berner Kramgasse, die Micheli einmal auf einer «Chilbi» gesehen hat, heckt zusammen mit ihrer Schwester Charlotte einen Plan aus, wie sie das Herz des verschlossenen, aber gutherzigen Michi erobern könnte. Im «Chuttlebad» kommt es zur letzten «Gschoui». Und siehe da: Auf all die zwischengeschlechtlichen Fehlversuche, Demütigungen und Tragödien folgt ein Happy-End: Michael und Augustine heiraten, bekommen Kinder und pflegen ein ungetrübtes Familienleben unter der Sonne des Emmentals.

Augustine und Michael: Das «Happy End» naht.

Und die Moral von der Geschicht: Ziehmutter Anni sagt es, kurz bevor sie stirbt: «Es kann nur zur Blüte werden, was wieder Erde wird.» Oder an anderer Stelle: «Liebe kann man nicht erzwingen. Wenigstens am Anfang nicht.» Der nach dem Tod von Anni erwachsen gewordene Michi jedenfalls bekommt so einige Lektionen ab: «Allei chani ke Gschoui ateige.»

«Michelis Brautschau» ist eine temporeiche Komödie, die für zahllose Lacher sorgt, unterhält und dem Publikum einen Spiegel vorhält. Ein Stück Emmental voller Humor und viel Ironie. Leben, werben und lieben wir noch wie zu Gotthelfs Zeiten? Was hat sich im Zwischenmenschlichen, im Dating, im gefühlvollen Miteinander verändert? Sind wir heute noch so ungehobelt wie vor 200 Jahren?

Die interessierte Dorfbevölkerung leidet wacker mit.

Die Inszenierung lebt von Überzeichnungen, Ausgefallenheit und Komik. Erstaunlich ausgeglichen ist das Spiel der Profis mit den Laien, der Dorfbevölkerung. Die Musik, die Beleuchtung der Kulissen, der Geranien, des Waldes, die Stimme der Off-Sprecherin Silvia Jost sind stimmig und sorgen für das nötige Ambiente. Und doch mögen einzelne Aussagen, Provokationen, Szenen, Haltungen nicht so ganz in die heutige Zeit passen.

Das präsentierte Frauenbild (mit gängigen Klischees wie: Frauen sind feurig wie Schwefelhölzer, aber per se dumm, trinken am liebsten Rotwein, wollen nicht arbeiten, verschwenden das Geld ihrer Ehemänner, sehen ab 60 aus wie schrumpflige Boskop…) bleibt unwidersprochen. Niemand muckst, niemand zuckt. Männer und Frauen im Publikum wie auf der Bühne lachen. Auf dem Buckel der Frauen.

Dabei: Was zu Gotthelfs Zeiten gang und gäbe war, gilt heute nicht mehr. Und da hätte man als Besucher, als Besucherin, von einer bearbeiteten, aktualisierten Version doch den einen oder anderen Widerspruch oder zumindest das eine oder andere Fragezeichen erwartet.

Denn weder auf der Moosegg noch im Rest des Emmentals lebt man heute noch wie zu Gotthelfs Zeiten. Die Sitten und Werte haben sich deutlich verändert. Die Ausdrucksweisen auch.

Doch was solls? Dem Publikum gefällts. Der Applaus auf der Premiere war jedenfalls lang und überwältigend.

Titelbild: Auf der Stärnenegg bläst die rothaarige Käthi dem werbenden Micheli den Marsch. Alle Fotos: Simon Schwab.

Aufführungen noch bis zum 13. August 2022

LINK:

Michelis Brautschau – Freilichtspiele Moosegg

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2 Kommentare

  1. Lieber Herr Schibli. Aufgrund dieses Artikels (oder besser gesagt TROTZ dieses Artikels) habe ich mich gestern bei bestem Wetter auf die Moosegg gewagt. Nun bin ich etwas irritiert. Zum einen sind die in Anführungszeichen gesetzten Zitate in Ihrer Kritik nach meiner Erinnerung zu grossen Teilen schlicht falsch und werden den falschen Figuren ins Mund gelegt. Zum anderen widerspreche ich den letzten Teilen des Artikels. Klar Fallen Sätze wie «Froue gseh im Auter us wiene schrumplige Boskop» oder auch «die hüttige Froue chöi nüt aus Wy suffe.» Aber nirgends habe ich gehört, dass sie «per se dumm» sind, wie Sie zitieren. Und zum anderen vermisste ich, im Gegensatz zu Ihnen, Herr Schibli, den gewünschten Widerspruch nicht. Ist es doch die Cleverness der Frauen, welche am Ende des Stücks das Happy End ermöglichten. Die beiden Damen aus der Stadt widerlegen ganz klar das Frauenbild der Ziehmutter (Anni, glaube ich) und des Knechts. Oder nicht?

  2. Sehr geehrter Herr Schertenlaib,
    besten Dank für Ihren Kommentar. «Zitate» sind immer so gut, wie das gesprochene Wort, wie das, was der Zuhörer gehört hat oder glaubte zu hören. Die «Zitate» jedenfalls entsprechen meinen Notizen, die ich während der Premiere für mich gemacht habe.
    Ich bleibe dabei: Gesamteindruck: «Michelis Brautschau» ist eine tolle, streckenweise überdrehte Produktion, die zu sehen es sich lohnt. Das Frauenbild aber ist überspitzt und entspricht nicht unseren Ansprüchen an eine moderne, wertschätzende sprachliche Beschreibung des weiblichen Geschlechts. Weniger Ironie wäre mehr.
    Die von Ihnen als Gegenbeweis zitierten aristokratischen Damen aus der Stadt sind für mich kein Gegenpol und genügen in der Inszenierung m.E. nicht als Widerspruch.
    Mit freundlichen Grüssen.

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