Jill macht eine Reise in die Vergangenheit: Ihre Eltern waren in den 70er-Jahren in die Wälder Nordamerikas gezogen, um ihre Kinder dort freiheitlich aufziehen zu können. Der Schweizer-Amerikaner Steven Michael Hayes schildert im Spielfilm «JILL» differenziert und leidenschaftlich diese Utopie bis zu ihrem Ende. Ab 15. September im Kino.
Ted und Joann ziehen in den frühen 70er-Jahren in die endlosen Wälder Nordamerikas, mit dem Ziel, selbst ein autonomes Leben zu führen und ihre fünf Kinder in völliger Abgeschiedenheit aufwachsen zu lassen. In der Wildnis geboren, wächst ihre jüngste Tochter Jill in einem kleinen Paradies auf. Dieses aber wird infrage gestellt, als einer ihrer Brüder den Wunsch äussert, aufs College zu gehen, dann der Besuch von Mary, einer alten Freundin von Joann, verheimlicht wird, und schliesslich Ted sich weigert, beim Unfall eines seiner Kinder Hilfe von aussen zu holen. Dies offenbart aber auch, dass es in dieser Geschichte um mehr geht als bloss um Familylife.
Damals ahnte noch niemand, dass die vermeintliche Freiheit ins Gegenteil kippen kann. Wie Jill, die kleine Schwester, und ihre vier Brüder vom Paradies in die Hölle kamen, lernt sie erst als Erwachsene auf ihrer Reise zurück in die Vergangenheit. Immer häufiger wurden die Brüche in ihrer Familienidylle offensichtlich. Die Kinder erlebten, wie sie zum Spielball einer scheiternden Beziehung werden. Weshalb ihr älterer Bruder Cold ins Gefängnis kam, erfährt Jill erst als Erwachsene. Auf ihrer Reise in die längst vergessen geglaubte Kindheit beginnt sie langsam zu verstehen, woran ihr utopischer Traum zerbrochen ist.
Die Eltern Ted und Joann
Steven Michael Hayes, der Regisseur
Der 1973 geborene Steven wuchs als Sohn einer Schweizerin und eines Amerikaners in Zürich auf. Nach der Matura begann er an der Universität zu studieren, merkte aber bald, dass sein Herz für den Film schlug und wechselte 1999 zum Filmstudium an der Hochschule für Gestaltung und Kunst. Sein Diplomfilm «Meyers» rechnet auf augenzwinkernde Weise mit der urschweizerischen Angst vor allem Unkonventionellen ab, wurde als Bester Schweizer Kurzfilm nominiert und ausgezeichnet. Mit der Arbeit bei zahlreichen Spiel- und Werbefilmen hat er Erfahrungen gesammelt, die er bei seinem ersten Spielfilm, «JILL», nutzen konnte.
Auch hier macht sich seine duale Herkunft bemerkbar. Diesmal allerdings umgekehrt. Im Drama um eine an der nordamerikanischen Grenze zu Kanada lebende Familie untersucht er, wie sich Freiheit und Egoismus zueinander verhalten und verfilmte die Geschichte im Schweizer Jura. Die Kinder wurden in den USA gecastet, und dem noch jungen Filmemacher ist es gelungen, namhafte amerikanische Schauspieler wie Tom Pelphrey (für Vater Ted), Juliet Rylance (für Mutter Joann) und Dree Hemingway (für die erwachsene Tochter Jill) zu gewinnen.
Vater Ted im Streit mit einem Sohn
Aus einem Interview mit dem Regisseur
Viele Themen des Films – Entfremdung, Aussteigen, Idealismus – sind heute brandaktuell. Sehen Sie Parallelen zur Gegenwart? Was können wir von «Jill» lernen?
Ich beobachte diese Themen schon seit Langem. Der Film zeichnet Parallelen zu unserer Zeit, ich habe mich aber Ende der 70er-Jahre in den USA angesiedelt. Damals, wie heute, gab es viele Enttäuschte. Die Generation, die die kulturelle Revolution auf den Weg gebracht hatte, wurde älter, viele verloren das Vertrauen, weil der von ihnen ersehnte Wandel politisch und gesellschaftlich auf sich warten liess. Einige zogen sich ganz aus der Gesellschaft zurück. Eine ähnliche Enttäuschung und Verunsicherung beobachte ich schon seit der Finanzkrise. Viele haben den Glauben an unsere Institutionen verloren oder misstrauen der Kollektivgesellschaft. Einige driften in eigene Gedankenkonstrukte ab oder wünschen sich eine Parallelgesellschaft. Die Pandemie wurde dafür ein Katalysator, hat diese Themen offensichtlich gemacht, sie in Freundschaften und Familien hineingetragen, wo zum Teil tiefe Gräben entstanden sind. Mich hat dabei interessiert, was mit den Menschen und ihren Beziehungen geschieht, die in ideologisch geprägten Umfeldern unter Druck kommen und Zerreissproben durchmachen. Der Film spielt diese Mechanismen bis zur letzten Konsequenz durch. Aber dennoch ist «JILL» kein dystopischer Film.
Jill mit ihrem Bruder Cold, als er das Gefängnis verlassen hat
Sie erzählen die Geschichte auf zwei Zeitebenen. Was hat Sie dazu bewogen?
Das Motiv der Erinnerung war für mich von Anfang an ein zentrales Element der Erzählstruktur. Erinnerung und Realität kollidieren in Jill. Der Widerspruch, der dies erzeugt, interessierte mich. Was geschah, als Jill sechs Jahre alt war, bleibt in ihrer Wahrnehmung verschwommen. Da war einerseits dieses kleine Paradies und anderseits diese ideologische Hölle. Ich will dem Zuschauer die Möglichkeit geben, sich in diesem Spannungsfeld aufzuhalten. Dieses ist ein Sinnbild unserer Zeit. Viele Halbwahrheiten kursieren, die Orientierung fällt uns oft schwer. Einfache Antworten auf komplexe Fragen gibt es nicht. Wir müssen lernen, diese Widersprüche auszuhalten. Nur so kommen wir der Wahrheit näher.
Was war Ihnen besonders wichtig auf der formalen Ebene? Welchen Fokus legten sie bei der Montage und der Musik?
Ich arbeitete darauf hin, eine in sich geschlossene Welt zu schaffen. Ich wollte dem Zuschauer Gelegenheit geben, in den intimen Mikrokosmos der Familie einzutauchen, um eine möglichst grosse emotionale Nähe zu den Figuren zu erleben. In diesem Sinne stand der Respekt gegenüber den Figuren an oberster Stelle. So auch in der Kameraarbeit von Marco Barberi. In der Montage von Cecile Welter haben sich die Schnittstellen zwischen den Zeitebenen und der Rhythmus des Films erst nach und nach verdeutlicht. Wir haben uns regelrecht an den Film herangetastet. Die Musik fand ihre Themen in einer engen Zusammenarbeit mit Jonas Bühler. Meine Editorin und ich haben in sorgfältiger Kleinarbeit das Universum dieser Menschen geschaffen.
Mutter Joann mit Tochter Jill
Auf der Suche nach Antworten
Nicht explizit wie in einem Thesenfilm, sondern implizit wie in einem gelungenen Drama verweisen Szenen, Bilder, Sätze und Töne auf Deutungsansätze, führen zu Antworten auf die drängenden und bedrängenden Fragen. Für mich fand ich sie in den Geschlechterrollen der Protagonisten, des Vaters und der Mutter.
Im Verlauf der Handlung kommt bei Ted, wie sympathisch er einem am Anfang auch erscheint, ein männliches Verhaltensmuster der selbstverständlichen Dominanz und latenten Aggression zum Tragen, was schliesslich zur Katastrophe führt. Er wird, je mehr er durch Situationen und Ereignisse in die Enge getrieben wird und das Argumentieren mit Schlagworten nicht mehr genügt, ein Macho. Wer 68er-Szenen bei uns miterlebt hat, erinnert sich an Männer mit ähnlichem Verhalten.
Mutter Joann und ihre Tochter Jill entwickeln sich anders. Beide weisen als erwachsene Frauen nicht sofort Schuld zu, klagt nicht gleich an, sondern versuchen zu verstehen. So gelingt es ihnen, Brücken zu bauen, was ihnen erlaubt, beispielsweise ihren Sohn und Bruder nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer einer toxischen Ideologie wahrzunehmen. Denn erst wenn die Fragen der Schuld gelöst sind, gelingt es, auch uns, als Mensch zu wachsen. Diese Haltung schwingt auf der Metaebene als Hoffnung über dem Film mit.
Um die verworrene und widersprüchliche Entwicklung der 68er-Utopie, die «JILL» zum Thema hat, in ihrer Fülle und Komplexität zu verstehen, verwendet der Filmemacher, wie einen Schlüssel, die Erinnerungsarbeit. Erinnern ist auch Reflexion, was in der Physik Zurückwerfen von Licht, Schall und Wärme, in der Etymologie Zurückbeugen bedeutet – und im Leben wohl, es nochmals zu leben. Und wenn dieses dramaturgische Prinzip das Lesen des Films gelegentlich anstrengend macht, sollten wir uns versichern, dass genau dieses Tun uns gelegentlich auch im Leben Anstrengung abverlangt, was hier im Film geübt werden kann, was die Medienpädagogik Probehandeln nennt.
Anmerkungen des Regisseurs Steven Michael Hayes
Titelbild: Das Paradies im Urwald