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Dem Bewusstsein auf die Spur kommen

Den vielfältigen Aspekten des Bewusstseins widmet sich das Collegium Generale der Universität Bern in seiner aktuellen Ringvorlesung. Thomas Metzinger sprach über «Das Rätsel des subjektiven Erlebens: Worin genau besteht das Problem des Bewusstseins?»

«Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?», diese Frage stellte der amerikanische Philosoph Thomas Nagel. Der Versuch, diese scheinbar einfache Empfindung zu bestimmen und zu benennen, scheitert, denn auf welche Weise sollten wir nachempfinden, wie eine Fledermaus sich fühlt, wenn sie bei Dunkelheit pfeilschnell fliegt und dabei noch Insekten fängt. Wir können nur sagen: Es ist paradox, dass der Mensch mit seinem unbestreitbar hochentwickelten Bewusstsein nicht in der Lage ist, Wahrnehmungen einer Fledermaus zu erfassen oder gar sich ins Bewusstsein einer Fledermaus zu versetzen.

Ein weiteres Beispiel: Es leuchtet uns allen ein, dass der Himmel ohne Wolken blau ist. Aber wie Sie dieses Blau wahrnehmen, können Sie nicht beschreiben, es ist Ihre persönliche Erfahrung. Wir haben zwar eine Unzahl Begriffe für die Varianten von Blau, aber wie ich das Blau sehe, bleibt mein subjektives Erlebnis.

Subjektive Erfahrungen sind nicht nachvollziehbar

An solchen «einfachen Empfindungen» (in der Fachsprache Qualia genannt) erklärt der Mainzer Philosophieprofessor Thomas Metzinger die grundsätzlichen Schwierigkeiten, einfache individuelle Empfindungen objektiv erfahrbar zu machen. Diese Qualia, gleichsam die «Atome» unseres Bewusstseins, lassen sich nicht definieren, sie folgen nicht immer der Konsequenz von Ursache und Wirkung und können nur vom einzelnen Menschen wiedererkannt werden.

Robert Fludd (1574-1637 in London), Anhänger der Lehren von Paracelsus. Ansicht der dreifachen Seele im Körper / commons.wikimedia.org

Der Begriff Bewusstsein heisst Lateinisch conscientia. Wir finden das Wort ganz ähnlich im Französischen conscience – da bedeutet es «Bewusstsein», aber auch «Gewissen». Eine interessante Verbindung, die darauf hindeutet, dass diese beiden Begriffe einen inneren Zusammenhang haben. Ohne Bewusstsein besässen wir kein Gewissen, können wir folgern, und umgekehrt: Das Gewissen ist ein innerer Raum innerhalb unseres Bewusstseins, in den niemand ausser uns selbst vordringen kann. Anders ausgedrückt: Im Gewissen berührt sich der innere Mensch mit dem bewussten, auf seine Umgebung ausgerichtete Mensch.

Bewusstsein – Gewissen – Achtsamkeit

Bewusstsein enthält auch den Aspekt «Achtsamkeit», von der heute oft die Rede ist. Der erste, der übrigens schon 1719 in unserem Kulturraum von achtsam sprach, ist der Universalgelehrte Christian Freiherr von Wolff. Er schrieb, dass Bewusstsein durch das Draufschauen auf das Denken entstehe. Das heisst: Durch sein Bewusstsein wird sich der Mensch seines Denkens bewusst.

Da wollte man das Bewusstsein finden! Phrenologie – die Schädelkunde. Aus: Friedrich Eduard Bilz (1842–1922): Das neue Naturheilverfahren (75. Jubiläumsausgabe)

Bemerkenswert ist, dass es in vielen Sprachen keine äquivalenten Übersetzungen für Geist und Bewusstsein gibt. Andere Sprachen, Sanskrit im alten Indien oder Tibetisch, differenzieren «Bewusstsein» in verschiedenen Begriffen. – Achtsamkeit ist bekanntlich eine Idee, die aus der buddhistischen Meditationspraxis stammt.

Einen anderen Aspekt fand Thomas Metzinger bei dem berühmten englischen Philosophen, Logiker und Mathematiker Bertrand Russell, der feststellte, dass ein Blinder die Dinge zwar nicht zu sehen vermöge, aber durchaus in der Lage sei, Physik zu verstehen. Abstraktes Denken ist mithin nicht auf die konkrete Wahrnehmung angewiesen.

Das reine Bewusstsein erfahren

In seinem Vortrag führt Metzinger schliesslich aus, dass «reines Bewusstsein» ohne Zeiterleben, ohne jegliches Ichgefühl, frei von persönlichen Wahrnehmungen existieren kann. Er bezieht sich dabei auf den griechischen Philosophen Plotin (205-270) und zitiert: «Wenn man das Wesen einer Sache erkennen will, muss man sie in ihrem reinen Zustand untersuchen.» Denn, so erklärt Plotin, jede Ergänzung behindere die Erkenntnis. In diese Richtung gehen die Forschungen Metzingers über eine Minimal Modal Explanation, in denen er mit seinen Mitarbeitern darüber nachdenkt und in Befragungen untersucht, auf welche Art Bewusstsein so rein wie möglich besteht. Die Erfahrung in der Meditation scheint ihm der reinen Bewusstheit am nächsten.

Ein breites Spektrum an Themen

Über Bewusstsein ist in den letzten Jahrzehnten intensiv geforscht worden—und zwar in geisteswissenschaftlichen wie auch in naturwissenschaftlichen Studien. Bewusstsein wird immer differenzierter erzeugt, verändert und vermessen: in Traum und Tanz, mithilfe des Films und der Sprache, aber auch über den Körper. Doch wichtige Fragen sind offen: Können Pflanzen oder Maschinen Bewusstsein haben? Und lässt sich das subjektive Erleben erklären? Die Ringvorlesung des Collegium Generale fächert die Fragen nach dem Bewusstsein breit auf. Was wissen wir, was wissen wir noch nicht, was können wir vielleicht niemals wissen?

Das Programm des Collegium Generale der Uni Bern gibt es zum Herunterladen. Alle Vorträge stehen 1-2 Tage später am gleichen Ort als Podcast zur Verfügung.

Thomas Metzinger

Titelbild: Kleine braune Fledermaus, unüblicherweise bei Tage unterwegs. / commons.wikimedia.org

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1 Kommentar

  1. Ein sehr interessantes Thema, obwohl ich keine Akademikerin bin und mein Interesse für das eigene Bewusstsein aus reiner Neugier und angeborenem Forschertrieb entstanden ist. Mit Mitte 40 entdeckte ich für mich die tibetische Meditationspraxis und es wurde mir erstmals bewusst, dass Bewusstsein und Erfahrung eins sind und sich dies auch in unseren Träumen widerspiegelt und mich als Individium ausmacht.
    Jahre später entstand der Begriff der Achtsamkeit, der vom Zeitgeist aufgenommen wurde und bis heute in angepriesenen «Weiterbildungskursen» angeboten wird.
    Ob eine Maschine ein eigenes Bewusstsein zustande bringt, hängt doch von den Menschen ab, die diese Maschine programmieren. Darum ist für mich Bewusstheit und Gewissen typisch menschlich und eigentlich mag ich mir nicht vorstellen und ist m.E. für die menschliche Entwicklung auch nicht relevant, wozu die maschinelle Intelligenz noch alles fähig ist. Für mich ist wichtig, dass sich die Menschen weltweit durch Erfahrung und Einsicht in eine positive Richtung weiter entwickeln. Maschinen sollten immer nur ein Hilfsmittel dazu sein.

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