Wie lässt sich der Hunger auf der Welt wirksam bekämpfen? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigen sich «Bühnen Bern» in einem dokumentarischen Feldversuch. Für ein Theater ein gewagtes Experiment.
Hunger ist nicht Schicksal, sondern gemacht. Jean Ziegler fordert seit vielen Jahren ein radikales Umdenken und kritisiert den immer hemmungsloseren globalen Kapitalismus sowie die mörderische Diktatur des Finanz-Kapitals. Es kann keine Enklaven des Glücks in einer Welt voller Schmerzen geben, lautet eine seiner Thesen. Wie können wir unseren Kindern in die Augen sehen, wenn wir ein Fünftel der Menschheit widerstandslos dem Untergang preisgeben? fragt der emeritierte Soziologe.
Die UNO verkündete schon vor rund zehn Jahren, Hunger sei das grösste lösbare Problem der Welt. Trotzdem leiden heute immer noch rund 800 Millionen Menschen Hunger. Mit dem Krieg in der Ukraine hat sich die Lage gar noch verschärft. Die sanktionierten Getreideexporte dramatisieren die Hungersituation insbesondere in den Entwicklungsländern. Wo positionieren wir uns? Was sind wir bereit, im Kleinen zu tun? Können internationale Konzerne die Welt retten? Braucht es mehr Bewegung von unten? Müssen wohlhabende Länder einen Teil ihres Wohlstands aufgeben? Sollten wir unser Wirtschaftssystem mit Profit und Dividenden grundlegend hinterfragen? Mit all diesen Fragen beschäftigt sich das dokumentarische Theater «Hunger» von «Bühnen Bern».
Theaterparcours mit Stationen
Der Regisseur Gernot Grünewald ist einer der wichtigsten Vertreter des modernen Dokumentartheaters. Er entwickelte zuletzt u. a. Projekte am Deutschen Theater Berlin, am Schauspielhaus Hamburg und am Nationaltheater Mannheim. Er und sein Team haben in den vergangenen Monaten zahlreiche Interviews mit Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, mit Aktivistinnen und Aktivisten, mit Bäuerinnen und Bauern, mit Vertreterinnen und Vertretern der solidarischen Landwirtschaft geführt, aus denen ein vielstimmiger Theater-Parcours mit verschiedenen Lösungsansätzen entstanden ist.
Das Publikum beim Eintopfen von Setzlingen.
Die Expertinnen und Experten werden gespielt von David Berger, Jeanne Devos, Luca Hass, Stephane Maeder, Isabelle Menke und Stefano Wenk. Das Publikum zirkuliert in Gruppen von Tisch zu Tisch. Da erläutert ein Vertreter der Agrochemie die Vorteile von Pestiziden zur Produktivitätssteigerung. Alle verwendeten Mittel seien getestet sowie sicher, sagt der Mann, während er einen Zuschauer bittet, in einen Schutzanzug mit Brille und Maske zu steigen, um Pflanzen zu spritzen. Dass der Chemieexperte kein Anhänger von Bioprodukten ist, versteht sich von selbst. «Bio ist nicht die Lösung», schreit er im Lauf des Abends mindestens sechsmal in den Saal. Derweil wird demonstriert, wie eine effektive Dekontamination der Utensilien funktioniert.
Agrochemie gegen Gemeinwohl-Ökonomie
Am nächsten Tisch schwärmt ein Anhänger der Gemeinwohl-Ökonomie von natürlichen Produkten, von Harmonie, Solidarität, Wertewandel und organisiert eine Besinnung auf sich selbst mit geschlossenen Augen. Der Tee, den er nach der Sitzung serviert, schmeckt scheusslich. Aus einer anderen Ecke des Raums wettert ein Aktivist gegen Monokulturen und verkündet, die Chemikalien, welche die industrialisierten Nationen in die Dritte Welt exportierten, seien pures Gift. Zuschauende werden gebeten, Pflanzensetzlinge umzutopfen. Ein Repräsentant der Non-profit-Organisation «Public Eye» erklärt, dass lokal und fair produzierte Lebensmittel aus intakten Ökosystemen nachhaltiger seien als industriell angebaute Produkte.
Eine natürliche Landwirtschaft ohne Chemie, aber mit Solidarität und Selbstversorgung.
Um Biodiversität und Artenschutz geht es am nächsten Tisch. Wir müssten anders essen, weniger Getreide, weniger Fleisch, mehr Gemüse und Kräuter, dadurch liesse sich das Welthungerproblem lösen, verkündet eine junge Gemüsebäuerin. Sie plädiert für Selbstversorgung und stellt das Modell der solidarischen Landwirtschaft (Solawi) vor. Die Suppe, die sie uns serviert, mundet nicht wirklich.
Im Lauf des Abends treten auch NGO-Vertreter, UNO-Repräsentanten sowie Forscher auf. Sie alle präsentieren ihre Thesen zur Lösung des Hungerproblems. Während die einen mehr Nahrungsmittel produzieren wollen, drängen andere auf eine bessere Verteilung und einen Paradigmenwechsel. Den Abschluss macht eine gespenstische Szene mit maskierten Technokraten, die ein Hochbeet mit Gemüse einnebeln, besprühen und chemisch behandeln. Die darauf mutierenden Organismen möchte man nicht wirklich verzehren.
Orientierungslosigkeit am Schluss
Welcher Weg ist der richtige? Als Zuschauer / Zuschauerin bleibt man nach knapp zwei Stunden Spiel ratlos zurück. Die Sensibilisierung für das wichtige Thema ist zwar gut. Aber die Menge an Informationen, Zahlen, Argumenten wirkt erdrückend. Die Palette an Lösungsvorschlägen, Theorien, Thesen ist breit, sehr breit, die optischen und akustischen Eindrücke hindern am Nachdenken. Orientierungslosigkeit ruft nach Einordnung, nach Reflexion. Und die kann erst in den Stunden und Tagen nach dem Theaterbesuch geschehen.
Kräutersuppe statt rotes Fleisch.
Gewiss. Das Thema Welthunger ist anspruchsvoll. Viele verschiedene Aspekte und Interessen sind involviert, nicht zuletzt die eigenen. Den Ausführungen der Expertinnen zu folgen, fordert viel Konzentration, strengt die Sinne an. Zum Teil sind die Ausführungen und Videos akustisch schwer verständlich. Spannend hingegen die Mischung aus Bewegtbild und live gespielten Szenen. Die Frage stellt sich, ob das Theater für solche dokumentarischen Feldversuche geeignet ist. Zur Sensibilisierung von komplexen gesellschaftlichen Fragen scheinen mir Workshops oder Dokumentarfilme mit Protagonistinnen und Protagonisten, mit glaubwürdigen Präsentationen und ruhigeren Aufnahmen das geeignetere Format zu sein.
Geister der Natur im Gemüsebeet.
Nichts desto Trotz: Regisseur Gernot Grünewald hat den Feldversuch mit folgender Überlegung gewagt: «Meine Hoffnung ist, dass man im Theater politische Themen vielschichtiger rezipieren kann, als wenn man einen Artikel liest oder eine Reportage im Fernsehen sieht. Wenn man zusammen mit Menschen in einem Raum ist, kann gemeinsames Denken stattfinden. Deswegen mache ich Theater», wird Grünewald im Programmheft zitiert. Ob die Bernerinnen und Berner das Experiment honorieren, werden die Zuschauerzahlen zeigen.
Titelbild: Technokraten in Schutzanzügen besprühen ein Gemüse-Hochbeet. Alle Fotos: Annette Boutellier.
Weitere Vorstellungen bis 21. Dezember 2022
Für Schulen steht auf der Homepage eine Materialmappe zum Download bereit.