StartseiteMagazinKolumnenMenschen, Götter und Maschinen:  eine Ethik der Digitalisierung

Menschen, Götter und Maschinen:  eine Ethik der Digitalisierung

Vor allem die Generation 65+ erinnert sich gerne zurück an regelmässige persönliche Kontakte, interessante Gespräche und den üblichen Informations- und Gedankenaustausch mit dem «Vis-à-Vis», wo auch immer dies die Gelegenheit bot. Und heute? Handy, Computer, iPad sind die primären «Gesprächspartner» und ersetzen die persönlichen Gespräche und den menschlichen Einbezug des Gegenübers. Die Digitalisierung begleitet uns vom Morgen bis am Abend und beeinflusst unseren gesamten Alltag und stellt gewohnte Kommunikation von Aug zu Aug auf den Kopf. Die Effekte der Digitalisierung lösen, ob wir es wahrhaben wollen oder auch nicht, Begeisterung und Unsicherheit zugleich aus – denn sie bringen sowohl Vorteile und Mehrwerte als auch Nachteile mit sich.

Der Siegeszug der Digitalisierung liegt in der Natur der Sache: Handy, Computer, iPad formulieren und übermitteln Daten und Botschaften viel schneller und zuverlässiger als Menschen. Aber ein Computer verarbeitet die «Inhalte» nicht von alleine. Dazu muss er entsprechend programmiert werden – und zwar von Lebewesen mit Kopf und Verstand. Nur die Kreativität eines Programmierers, der ein ausgefeiltes Programm entwickelt, hilft dem Computer auf das Geleise und sagt ihm, was genau er zu tun hat. Ein Computerprogramm hat kein eigenes Bewusstsein wie Menschen. Das Computerprogramm hat keine eigene Kreativität oder Sensualität. Es mag ein vierbeiniges Lebewesen als Beispiel wohl erkennen, wird aber nie eine emotionale Beziehung zu ihm aufbauen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Deshalb kann der Mensch kaum ersetzt werden. Dennoch, der Bezug zu den Menschen und auch den universellen Göttern aller Weltreligionen wird jedoch immer mehr «computerisiert».

Ein Bestseller von Professor Wolfgang Huber

Der Theologe Wolfgang Huber, Professor für Theologie in Berlin, Heidelberg und Stellenbosch, engagiert sich u.a. im Wittenberger Zentrum Globale Ethik und setzt sich in seinem aktuellen Buch (Verlag C-H-Beck) «Menschen, Götter und Maschinen» mit der Fragestellung «Eine Ethik der Digitalisierung» vertieft auseinander. Immerhin steht im Titel der Mensch an erster Stelle, vor Göttern und den Maschinen? Um sich mit seinen Gedanken zusätzlich auseinanderzusetzen, müsste wohl von verschiedenen irdischen Göttern zusätzliche Bücher geschrieben werden? Die Thematik ist dermassen komplex! Auf alle Fälle ist das Buch lesenswert und hat mich zur vorliegenden Kolumne verführt. Es ist nun mal Fakt, dass die Digitalisierung unsere Privatsphäre ausgehöhlt hat, die Öffentlichkeit in auseinandertriftende TEIL-Öffentlichkeiten zerlegt, Hemmschwellen gesenkt hat und die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge aufweicht. Der bekannte Theologe und Ethiker Wolfgang Huber beschreibt in seinem «Bestzeller» pointiert diese technische und soziale Entwicklung und zeigt an vielen anschaulichen Beispielen, wie und nach welchen Massstäben wir die Digitalisierung selbstbestimmt und verantwortlich gestalten und in unserem Alltag  einbeziehen können.

Die Haltungen zur Digitalisierung schwanken zwischen Euphorie und Apokalypse: Die einen erwarten die Schaffung eines neuen Menschen, der sich selbst zum Gott erhebt. Andere befürchten den Verlust von Freiheit und Menschenwürde. Wolfgang Huber wirft demgegenüber einen realistischen und kritischen Blick auf den technischen Umbruch. Das beginnt bei der Sprache: Sind die «sozialen Medien» wirklich sozial? Fährt ein mit digitaler Intelligenz ausgestattetes Auto «autonom» oder nicht eher automatisiert? Sind Algorithmen, die durch Mustererkennung lernen, deshalb «intelligent»? Eine überbordende Sprache lässt uns allzu oft vergessen, dass noch so leistungsstarke Rechner nur Maschinen sind, die von Menschen entwickelt und bedient werden. Notfalls muss man ihnen nicht nur während der Energiekrise den elektrifizierten Stecker ziehen. Wolfgang Huber zeigt in seinem verständlich und klar geschriebenen Buch, wie sich konsensfähige ethische Prinzipien für den Umgang mit digitaler Intelligenz finden lassen.

Zu Beginn schreibt der Autor: «Wir leben in einer Zeitenwende. Es geht um mehr als nur um eine Fortsetzung des Wandels.» Es folgt eine wohlinformierte, kompakte Zusammenschau der vielfältigen Effekte, die Computer, Smartphones und das Internet auf unser Leben ausüben. Huber diagnostiziert klar und deutlich eine drohende Spaltung der Gesellschaft in computertechnisch Besitzende und digitale Amateure. Er hebt die Paradoxie hervor, dass wir einerseits allergisch auf die staatliche Bedrohung unserer informationellen Selbstbestimmung reagieren, andererseits unsere persönlichen Daten bereitwillig digitalen Grosskonzernen schenken.

Computern keine menschlichen Fähigkeiten zuschreiben

Als moralische Richtschnur für die unübersichtliche Zeitenwende zitiert der Autor das «Prinzip Verantwortung», das der Philosoph Hans Jonas anno 1979 im gleichnamigen Buch formuliert hat: «Handle so, dass die Folgen deines Handelns vereinbar sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.» Diese Maxime will der Autor, nicht wie meistens üblich, auf die aktuelle Umweltkrise angewandt wissen, sondern auch auf das individuelle und politische Agieren angesichts der computertechnischen Umwälzungen.

Was bedeutet digitale Verantwortung für den Erziehungssektor, für die Arbeitswelt, für den Umgang mit einer unübersichtlichen Vielfalt an fragwürdigen Informationen? Hierzu stellt Huber Forderungen auf, einerseits vernünftige, anderseits aber kaum überraschende. Insgesamt werden wir der Tatsache bewusst, dass es eine komplizierte Aufgabe ist, die Chancen der neuen Techniken zu nutzen, ohne an ihren Risiken zu scheitern.

Der Autor warnt davor, den Kopf zu verlieren. Man solle Computern nicht ohne Weiteres menschliche oder gar übermenschliche Fähigkeiten zuschreiben. Die künstliche Intelligenz sei zwar schnell und dynamisch im Lösen vorgegebener Aufgaben, könne sich aber in puncto Selbstverständnis und Kreativität nicht mit menschlichen Gaben messen.

Er hält insbesondere nichts davon, lernfähigen Maschinen Autonomie zuzugestehen, sondern will diesen Begriff für menschliche Subjekte reserviert wissen. Vermeintlich autonome Drohnen oder Fahrzeuge, so Huber, bleiben, selbst wenn sie befähigt werden, ihre Leistung sukzessive zu verbessern, letztlich nur Automaten.

In diesem Bereich kann man dem Autor weitgehend zustimmen. Künstliche neuronale Netze liefern schon heute Problemlösungen, deren Zustandekommen quasi ihr Geheimnis bleibt. Es ist für Menschen oft gar nicht so einfach, die Vorgänge in einer derartigen «Black Box» zu verifizieren oder nachzuvollziehen. Wenn wir neuerdings soweit gehen, sogar Tieren Leidensfähigkeit und eine Art Innenleben zuzugestehen, ist vielleicht der Tag nicht so fern, an dem eine spezielle Verantwortungsethik für selbstständig agierende digitale Sklaven und elektronische «Rechenchefs» diskutiert werden muss.

Doch so weit will Huber nicht gehen. Er diskutiert die digitale Ethik ausschließlich unter dem Aspekt, was der alltägliche Umgang mit komplexen Maschinen für das Menschenbild bedeutet. Die Frage beantwortet er als Christ: Er lehnt Utopien ab, die quasi Gott Konkurrenz machen, indem sie dem Menschen Unsterblichkeit oder andere übermenschliche Fähigkeiten verheissen. Weder die «Singularität» à la Ray Kurzweil – ein angeblich bevorstehender Übergang der Menschheit in einen digitalen Transhumanismus – noch der «Homo deus» aus dem gleichnamigen Buch von Yuval Noah Harari sind für Huber plausible Optionen.

Man muss also kein religiöser Mensch sein, um dem Theologen Huber bei dieser Argumentation zuzustimmen. Zurecht hält er wenig von Kurzweils Ideen, aber auch von Hararis populärer Prognose baldiger gottgleicher Allmacht. Die Auseinandersetzung mit Hararis Thesen ist Bestandteil der Ausführungen des Buches. Wenn wir uns den Phänomenen der Digitalisierung aus biblisch-theologischer Perspektive nähern wollen, sollten wir uns nicht nur fragen, welche Potenziale zum Missbrauch in einer digitalisierten Welt bestehen, sondern auch und vor allem, wie der normale und inhaltlich unbedenkliche Gebrauch digitaler Medien unser Lebensgefühl und unser Glaubensverständnis verändern kann.

Inmitten der digitalen Zeitenwende gilt es in jeder Hinsicht – aus religiöser und weltlicher Optik – , einen klaren Kopf zu behalten: Die digitale Technik aller Formen verändert unser Leben. Die Wahrnehmung der Existenz und die Kommunikationsmittel wandeln sich ständig und werden immer schneller. Digitale Technologien verändern die Beziehungen zwischen den Individuen. Sie führen zu veränderten Vorstellungen von Autorität, Realität und Identität. Die Computer werden uns Menschen weder ersetzen noch zu Göttern oder Königen machen? Eine zentrale Frage bleibt heute und in Zukunft im Ungewissen, ob der Autor die künftigen Fähigkeiten selbsttätig agierender Maschinen – von Menschen eingesetzt – nicht unterschätzt. Allein schon im politischen Umfeld spürt man den «Computer-Populismus» von links bis rechts, der das individuelle Denken und Handeln der Menschen permanent beeinflusst oder gar verführt. Es ist zunehmend schwerer, Wahres von Unwahrem im Netz zu unterscheiden und richtig einzuordnen. Wenn aufgrund von Desinformation Wissen, das als Grundlage für Meinungsbildung dient, nicht mehr gesichert erscheint, erschwert dies sogar das demokratische, vertrauensvolle Miteinander in unserer Gesellschaft.

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